ANOGIA

I Kriti ton Oneiron

von Margaretha Rebecca Hecht Hopfner

Von Anogia, jenem Bergdorf am Fusse des Ida, hatte ich schon viel gelesen und gehoert. Widerstand gegen verhasste Besatzer hat hier lange Tradition, und seine Maenner sollen - so wie jene der Sfakia - seit Jahrhunderten zu den unnachgiebigsten und stolzesten ganz Kretas zaehlen. Weithin bekannt ist Anogia allerdings auch fuer seine in einem eigens dafuer geschaffenen Kollektiv zusammengeschlossenen Frauen angefertigten Webereien. Ihre schoenen Handarbeiten praegen das gesamte Erscheinungsbild des Ortes, weil sie an fast allen Hauswaenden prangen und am Strassenrand zum Verkauf angeboten werden. Besonders schoene Schafwollteppiche werden erzeugt, denn schliesslich ist Anogia mit seinen ca. 100.000 Schafen und Ziegen auch Kretas Zentrum der Schaf- und Ziegenzucht. Unverwechselbar kretischen Klang aber erhaelt der Name des Dorfes durch die grossen Musiker, die aus seiner Mitte hervorgegangen sind.

Anogia liegt in 790 m Seehoehe, von Heraklion ist es cirka 35 km und von Rethymnon cirka 55 km entfernt. Von diesem Bergdorf gelangt man ueber einen Wanderpfad zur Nida-Hochebene am Fusse des Psiloritis. In den Sommermonaten weiden auf diesem fruchtbaren Hochland die zahlreichen Schafe und Ziegen der Bauern von Anogia. Aber auch eine uralte kretische Kultstaette, wenn nicht gar die bedeutenste - das Ideon Andron, die Zeus-Hoehle - ist von hier aus zu begehen und einzusehen. Goettervater Zeus soll an diesem heiligen Ort aufgewachsen sein: Rhea, seine Mutter hatte ihn hier vor seinem Vater Kronos versteckt. Einer Unheilsprophezeiung gehorchend, die ihm den Sturz vom Thron durch eines seiner Kinder vorhersagte, verschlang alle seine neugeborenen Kinder, um Konkurrenten um die Macht von vornherein auszuschalten. Als Zeus geboren war, taeuschte Rhea Kronos, indem sie ihm einen in Windeln gehuellten Stein zum Essen gab und das Kind in ein sicheres Versteck - das Ideon Andron - verbrachte, wo es von den Chureten bewacht, aufwuchs. Immer, wenn das Kind schrie, schlugen die Chureten mit ihren Schildern gegeneinander und uebertoenten so mit ihrem Waffenlaerm das Kinderweinen, sodass seine Anwesenheit unbemerkt blieb.

Noch nicht so lange ist es her, denn grad einmal ein paar Jahrzehnte sind vergangen, als Anogia konspirativer Schauplatz des Widerstandes gegen das Naziregime war. 1944 wurde in der Naehe von Archanes der deutsche General Kreipe von britischen Offizieren im Zusammenwirken mit kretischen Partisanen - unter ihnen Maenner aus Anogia - entfuehrt, unter den Augen der Besatzer durch zahlreiche Kontrollen quer durch Kreta verbracht und schliesslich von der Suedkueste aus nach Afrika verschifft. Diese Route hatte auch durch Anogia und das Ida-Gebirge gefuehrt. Die deutschen Machthaber antworteten auf diese Schmaehung mit aeusserst grausamer Vergeltung, denn Anogia wurde - wie Kandanos im Westen Kretas fuer eine andere Widerstandsaktion - bis auf die Grundmauern niedergebrannt und seine Bevoelkerung zu einem grossen Teil ausgerottet: "Alle 950 Haeuser wurden zerstoert und alles Vieh getoetet ... (...) Der Befehl lautete weiter, alle maennlichen Einwohner, derer man im Umkreis von 2 km habhaft werden koenne, zu erschiessen. Die Maenner waren allerdings schon am Abend zuvor in die Berge geflohen, doch wurden die Alten und Gebrechlichen, die ihre Haeuser nicht verlassen konnten, von den Deutschen ihrem Schicksal ueberlassen und verbrannten. Weitere Bewohner wurden in der Umgebung des Ortes exekutiert. Die offizielle Liste der Praefektur Rethimnon fuehrt 117 getoetete Bewohner Anogias auf." (Eberhard Fohrer, S.249) Derartige Katastrophen hatten diesen Ort bereits im 19. Jahrhundert zweimal heimgesucht: sowohl 1822 als auch 1866 zerstoerten die Tuerken im Zuge der grossen kretischen Aufstaende das Dorf. Immer wieder bauten die Menschen von Anogia ihre Heimstaette neu auf, nach dem 2. Weltkrieg gar mit amerikanischer Hilfe.

So wundert es nicht, dass gerade in Anogia das musikalische Herz Kretas schlaegt, zumal sich in der Musik die innersten, tiefsten Anliegen und Empfindungen von Menschen spiegeln, ein Volk zentrale Impulse fuer seine Identitaet aus ihr erhaelt: Die Musikerfamilie Xilouris mit ihren beruehmt gewordenen Soehnen Nikos, Yiannis und Antonis stammt von hier, ebenso Vassilis Skoulas. Ein anderer unverwechselbarer Musiker der Gegenwart, Ludovicos Ton Anoyion, dessen CD "Colours of Love" auch musikalisch eine Raritaet darstellt, hat den Namen seines Dorfes gar seinem Kuenstlernamen einverleibt, sodass man wisse, aus welch wunderbarer Kehle Kretas die Klaenge stroemen, wenn seine Musik das Land erfuellt ...

Mir wurde in Anogia eine wunderschoene Erfahrung zuteil, die sich tief in mein Herz eingepraegt hat: Nachdem ich ein wenig durch das Dorf gestreift war, mir die schoenen Webarbeiten angesehen hatte, kehrte ich zur Platia zurueck und stand ploetzlich vor einem Haus mit der Inschrift "Nikos Xilouris House". Dies musste das Haus der Musikerfamilie Xilouris sein. Einer Leidenschaft folgend, meine Eindruecke festzuhalten, zu dokumentieren, fotografierte ich sogleich den Hauseingang mit seiner vielsagenden Bezeichnung, und kaum dass ich mich versah, hatte ich schon direkt von der Strasse aus seinen ersten Raum betreten. Eine freundliche, aeltere, in Schwarz gekleidete Dame, mit zartem Goldschmuck angetan, der ihre persoenliche Exklusivitaet wohl ein wenig unterstreichen sollte, lockte mich charmant hinein und gab sich sofort als "sister" zu erkennen: Es war Zouboulia Xilouris, die Schwester all dieser grossen Kuenstler, die - wie sich herausstellte - mit Hingabe das Andenken an ihre so herausragend begabten Brueder Nikos, Yannis und Antonis in Ehren haelt und der Mitwelt nahebringt. Sie muss meine Ruehrung bemerkt haben, denn schliesslich unterhielt sie sich mit mir zwei Stunden lang in bruchstueckhaftem Englisch und Franzoesisch, denn ich bin leider des Griechischen unkundig, sie bewirtete mich und zeigte mir saemtliche Raeume ihres Elternhauses, welche ueber und ueber mit Fotografien von allen Familienmitgliedern geschmueckt sind. In diesen Mauern, in kleinen, bescheidenen Raeumen hatten sie also gelebt, die Xilouris-Brueder, mit ihren Eltern und Schwestern, hier erhielten sie von ihrem Vater den ersten musikalischen Unterricht, fingen gemeinsam zu musizieren an, um dann einzigartige Stimmen Kretas zu werden ...

Aufmerksam hoerte ich hinein in dieses Haus, betrachtete die Bilder, lauschte Zouboulia Xilouris, teilte mit ihr eine Mahlzeit und vernahm im Geiste ganz deutlich ein von ihrem Bruder Yiannis so wundervoll auf der Laute gespieltes Lied, das ich bei mir zuhause in Wien oft und oft schon gehoert hatte und das wie kaum ein anderes kretisches Musikstueck aus den Tiefen der Seele Kretas zu mir spricht, mir die Kraft Kretas schenkt und mich mit Kreta verbindet: I Kriti ton Oneiron!

Folgenden Werken habe ich wichtige Hinweise fuer diesen Text entnommen:
Vassilakis, Antonis: Kreta. Geographie Geschichte Museen Archaeologische Staetten und Monumente. Athen. o.J.
Fohrer, Eberhard: Kreta. Michael Mueller Verlag. Erlangen 2003.
Brinke, Margit und Peter Kraenzle: Kreta. Reise Know-How-Verlag. 2. Aufl. Bielefeld. 2000.

M.R. Hecht Hopfner, Wien, 2025, Alle Rechte vorbehalten.

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