Chania - Du Schoene

Venedig des Ostens

von Margaretha Rebecca Hopfner

Die Stadt Chania an der nordwestlichen Kueste Kretas, eine der aeltesten Staedte Europas, wenn nicht gar die aelteste, will gerne die "schoenste Stadt Kretas" sein. Gelegentlich vernehmen wir sogar, dass hier ein heimliches Wetteifern mit dem etwas kleineren Rethymnon um dieses Praedikat stattfinde. Und wenn ich fuers erste einmal am venezianischen Hafen von Chania entlanggehe, sein Rund nach allen Seiten hin ausschreite, der jahrhundertealte Leuchtturm und die zahlreichen Schiffsmasten im oestlichen Hafenbereich mich willkommen heissen, ich auf meinem Rueckweg vor der Janitscharen-Moschee stehen bleibe, meine Augen eintauche in die zarten Pastellfarben der Haeuser ueber dem Meer vis a vis auf der westlichen Seite des Hafens, die vielen vornehmen Fenster mich freundlich und ein wenig traurig gruessen, ich mich hineinlocken lasse in die engen Gassen der venezianischen Altstadt, mir ein ausgeschlagenes Fenster den Blick auf den Himmel freigibt und mir die tausende Jahre alte Geschiche von Chania erzaehlt, dann kann ich kaum anders, als von ganzem Herzen zu fuehlen: Chania, Du bist die Schoenste ...

Wer in diese Schoenheit einzutauchen will, muss zunaechst einmal in bisweilen stickender Hitze eine nicht weniger erstickende Verkehrslawine in engen Zufahrtsstrassen durchdringen und ueberwinden, die geografische Orientierung bewahren und schliesslich einen akzeptablen nach Moeglichkeit schattigen Parkplatz fuer das Auto ergattern, der dann auch wiedergefunden werden kann. Beharrlichkeit und Muehe werden allerdings belohnt, denn eine erstaunlich gut erhaltene venezianische Altstadt, Museen mit kostbarsten Schaetzen, Gotteshaeuser, Reste antiker Hochkultur und das Flair einer Stadt, die es gewohnt war und ist, eine der ersten zu sein, erwarten den Besucher. Es wartet aber auch eine Einzigartigkeit auf ihn, naemlich Chanias beruehmte Markthalle in der Neustadt, eine kleine Stadt in der Stadt, wo scheinbar "Alles" zu finden ist, was der Mensch zum Leben braucht.

Als Historikerin ist es mir stets ein Beduerfnis, den geschichtlichen Verlauf eines Ortes, den ich aufsuche, zu beleuchten, und bei Chania werde ich aufpassen muessen, meinen Eifer ein wenig zu zaehmen - so Vieles gaebe es zu erwaehnen - und mich auf die wichtigsten geschichtlichen Fakten und Ereignisse zu beschraenken: Bereits in der minoischen Epoche befand sich hier im Bereich des heutigen Stadtviertels Kasteli aestlich des Hafens eine hochentwickelte minoische Stadt mit dem Namen Kydonia. Dieser Name ist auf einer Tontafel mit Linear-B-Schrift erhalten geblieben, Stadtgruender soll gar Koenig Minos selbst gewesen sein. Das archaeologische Ausgrabungsbild vermittelt uns eine differenzierte Vorstellung von der Struktur der staedtischen Anlage. Die unter der Leitung von Y. Tzedakis, E. Hallager, M. Vlazakis und weiterer Archaeologen durchgefuehrten Ausgrabungen legen zudem den Schluss nahe, dass sich in Kydonia auch eine Palastanlage vergleichbar den anderen grossen Palastanlagen des minoischen Kreta befunden haben koennte, eindeutig verifizieren laesst sich diese Hypothese allerdings bislang nicht. In klassisch griechischer Zeit war Kydonia eine der bedeutendsten Poleis Westkretas, ihre Muenzen stellen eine "Nymphe mit Kranz dar und den Heros Kydon, den eine Huendin saeugt" (A. Vassilakis), die Bildhauer Kresilas und Aristikles waren hier beheimatet. Unter roemischer Herrschaft genoss Kydonia den Status einer freien Stadt, da sie zur Kooperation mit Rom bereit war. Bis in das 7. Jahrhundert behielt Kydonia eine bedeutende urbane Position in Westkreta, um allerdings in den folgenden Jahrhunderten zu einer baeuerlichen Siedlung zurueckzuschrumpfen. Erst unter den Venezianern, die Kreta im 13. Jahrundert eroberten, gewann die Stadt wieder an Glanz, es wurde Verwaltungssitz, eine rege Bautaetigkeit entfaltete sich, Schiffsarsenale wurden fuer den intensiv betriebenen Schiffsbau angelegt, und den Schutz gegen aeussere Feinde sollten starke Festungsmauern sowie eine vom beruehmten venezianischen Architekten Sanmicheli konstruierte Festung gewaehrleisten. Aus dieser Epoche schoepft Chania bis zum heutigen Tag ein reichhaltiges Erbe, dem in der Altstadt auf Schritt und Tritt begegnet werden kann. Allerdings soll an dieser Stelle auch ganz bewusst auf den erbitterten Widerstand einheimisch kretischer Bevoelkerung gegen die venezianische Besatzungsmacht hingewiesen werden. Mitte des 17. Jahrhunderts musste Chania sich nach kurzer Belagerung den anstuermenden tuerkischen Heerscharen ergeben, die fortan bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Kreta unter ihrer Gewalt hielten, aber auch aus dieser Zeit stammen beeindruckende Baudenkmaeler, wie etwa die Janitscharen-Moschee am Hafen und der tuerkische Brunnen im Hof der Franziskanerkirche. Mit dem Ende der Fremdherrschaft und der endlich gewonnen Freiheit Kretas wurde Chania 1898 zur Hauptstadt erkoren und blieb in dieser Funktion, bis im Jahre 1972 diese Ehre Heraklion uebertragen wurde.

In der wahrscheinlich aeltesten Stadt Europas ist der Besuch von Chanias Museen fuer jeden Kulturinteressierten Bildungspflicht: Eines der wichtigsten seiner Art ist wohl das Archaeologische Museum in der Chalidon Strasse, das in der renovierten ehemaligen Franziskanerkirche, San Francesco, eine der 23 venezianischen Kirchen Chanias, untergebracht ist. Gerade das architektonische Ambiente dieses ehemaligen Gotteshauses mit seinen Rundboegen und grosszuegigen Hallen verleiht den hier praesentierten Artefakten aus Kretas grosser Vergangenheit sakralen Glanz und unterstreicht deren einzigartige und vielgestaltige Schoenheit: "Es ... bewahrt archaeologische Funde aller Perioden des Altertums von der neolitischen Epoche bis zum Ende der Roemerherrschaft. Die meisten Ausstellungsstuecke stammen aus den Ausgrabungen der letzten 30 Jahre ... ." (A. Vassilakis). Aus der minoischen Epoche sind neben den wohlbekannten bemalten Tonsarkophargen, Tongefaessen und Werkzeugen auch Tontaefelchen in der bislang noch unentschluesselten Linear-A-Schrift zu sehen. Das antike Griechenland ist unter anderem mit Plastiken aus dem Asklepiosheiligtum in Lissos - wie jener einer Kinderstatue aus Marmor -vertreten, und Roms Gesicht erhaelt Leben in bestens erhaltenen Mosaikfussboeden. In der selben Strasse wie das Archaeologische Museum befindet sich in einem ebenfalls venezianischen Gebaeude das Volkskundemuseum, die Kirche San Salvatore in der Theotokopoulou Strasse beherbergt eine byzanthinische und nachbyzanthinische Sammlung. Am Nordwestende der Hafenpromenade laedt das Nautische Museum zu einem Besuch ein, wie in der Nearchou Strasse das Kriegsmuseum, in welchem dem kretischen Freiheitskampf, dem gerade auch Chania immer wieder als Ausgangsbasis diente, gedacht wird. Und in der Sfakianakis Strasse kann das Historische Museum besichtigt werden, in dem die juengere Geschichte Kretas praesentiert wird. Hier wiederum ist es geboten, an Eleftherios Venizelos, einem der bedeutendsten aus Kreta stammenden griechischen Staatsmaenner der juengeren Geschichte zu erinnern. Venizelos spielte eine entscheidende Rolle in jenem historischen Prozess, der Kreta die Freiheit von tuerkischer Herrschaft brachte, er war zudem wiederholt griechischer Ministerpraesident in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. In Chania hat Eleftherios Venizelos lange Jahre gelebt, in Chania hat dieser grosse Mann auch seine letzte Ruhestaette gefunden.

Schoenheit, Schoenes, Aesthetik und Geschmack sind als Haltungen, Einstellungen, Orientierungen, Erscheinungen und Produkte kunstfertigen Tuns zum einen Ergebnis kultureller Formung, Normierung und Praesentation, entspringen aber in ganz besonderer Weise individueller Kreativitaet und zielen mit der Qualitaet ihrer Botschaften, ihrer Bildsprache gerade deshalb ebenso zentral auf die im aesthetischen Bereich hoechst sensitiv und individuell erzeugte menschliche Wahrnehmung. Jeder von uns, der nach Chania kommt, um der Schoenheit dieser Stadt zu begegnen, wird es fuer sich tun und jenes Schoene finden, welches gerade sein individuelles Auge und sein ureigenstes schoengeistiges Empfinden ihm erschliesst. Und gerade das ist auch das Schoene an Chania, dass es der Schoenheit so viele verschiedene Assoziationsraeume bereithaelt ...

Folgenden Werken habe ich wichtige Hinweise fuer diesen Text entnommen:
Vassilakis, Antonis: Kreta. Geographie Geschichte Museen Archaeologische Staetten und Monumente. Athen. o.J.
Fohrer, Eberhard: Kreta. Michael Mueller Verlag. Erlangen 2003.
Brinke, Margit und Peer Kraenzle: Kreta. Reise Know-How-Verlag. 2. Aufl. Bielefeld. 2000.

M.R. Hecht Hopfner. Wien. 2025. Alle Rechte vorbehalten.

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