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Margaretha
Rebecca Hopfner
VORTRAG: THEMA - "KINDER IN AUSCHWITZ" FRANKFURTER
LITERATURHAUS - 2.FEBRUAR
1995 An den Beginn der nun folgenden Ausfuehrungen zum Thema "Kinder in Auschwitz" sei ein Zitat eines UEberlebenden von Auschwitz gestellt. Der Wiener H.F. wurde als Jugendlicher gemeinsam mit seiner juengeren Schwester R. von Theresienstadt weg nach Auschwitz deportiert R. wurde im Juli 1944 in der Gaskammer ermordet. Wie in allen UEberlebenden ist auch in H. F. die Erinnerung an das Erlebte stets gegenwaertig. Seine Worte: "Wenn
ich an die vielen Toten denke, empfinde ich nur eine hilflose Trauer.
Wenn ich mich niederlege, im Bett, sehe ich sie vor mir. Alle. Die
Gesichter. Die eingefallenen, aufgedunsenen. Am aergsten war es mit den
Kindern, die da gestorben sind. Man haette ja auch selbst das Kind sein
koennen. Ein erwachsener Mensch mit fuenfzig, sechzig Jahren, der hat ja
doch Jahrzehnte ein normales Leben gehabt. Aber die Kinder haben ja
nicht gelebt. Eine Mutter hat sie geboren und hat sie gehegt und
gepflegt, und dann sind sie massakriert worden fuer die Reinheit des
Blutes. Meine Schwester sehe ich dauernd. Der Mensch, der einem am naechsten
gestanden ist, den hat man immer vor Augen. Zum Abschied besuch' ich sie
noch einmal. Ich steig' da rauf auf diese Holzpritsche und sag ihr:
'Servus, ich muss jetzt gehen mit den jungen Leuten.' Und sie sagt auch
'Servus'. Und dann sehe ich, dass dieses menschliche Wesen ja nie
richtig gelebt hat."
Die
tragische Dramatik dieser Aussage spricht fuer sich selbst. Sie bedarf
keiner weiteren Erklaerung.
Eine
zentrale Schwierigkeit
fuer jeden, der sich Auschwitz naehert, fasst die oesterreichische
Dichterin Ingeborg Bachmann
in die folgenden erkennbar stockenden Saetze. Noch unter dem
unmittelbaren Eindruck eines Besuches in der Gedenkstaette
Auschwitz-Birkenau stehend sagt sie: "Auf dieser
Reise sind
wir durch
das Industriegebiet gefahren
und haben
die Strasse ueberlegt
(...) und ich sehe einen Namen dort, und ich
habe gesagt,
man koennte vielleicht im Sueden herumfahren,
und ich
habe diesen Namen so
noch nicht gelesen gehabt und haette ihn auch gar nicht richtig
aussprechen koennen ... es war Auschwitz. Ich war im Augenblick nicht
darauf gefasst, dass ich so nahe
dort bin, und habe
dann gebeten, ob wir dort die
andere Strasse fahren koennen ... Und ich war in Auschwitz und in
Birkenau. Nun hilft einem alles nichts,
wenn man
das weiss,
denn in dem Augenblick, wo
man dort
steht, ist alles
ganz anders. Ich kann nicht
darueber sprechen, weil ... es gibt auch nichts zu sagen. Es waere mir vorher moeglich
gewesen, darueber
zu sprechen, aber seit ich es
gesehen habe,
glaube ich, kann ich
das nicht mehr ..."
Nun
aber ergibt
sich fuer uns, die
wir in einer kulturellen Tradition stehen, zu der nun Auschwitz
unwiderruflich gehoert,
die dringende, aber
auch bedraengende Notwendigkeit,
ueber Auschwitz
zu sprechen. Auschwitz verlangt nach seinem Ausdruck, will
zur Sprache
gebracht werden,
will den ihm gebuehrenden Platz
in unserer Erinnerung. Und wir - vor
diese Aufgabe gestellt - muessen zur
Sprache zurueckfinden,
wenn wir ihr gerecht
werden wollen.
Wer
auf Auschwitz zugegangen ist
und sich beruehren
hat lassen von einer alle Grenzen unserer Vorstellungskraft sprengenden
Realitaet, will und darf sich nicht
damit begnuegen, die Auschwitzer Sachverhalte in kuehler Distanz aufzubereiten. Es verlangt ihn nach mehr!
Er geht in die Trauer!
Waehrend der Arbeit am Thema "Kinder in Auschwitz" liess sich
eine bis zum aeussersten gesteigerte Emotionalisierung vermeiden. Gefuehle
flachten zwar in dem Mass wieder ab, als die Erkenntnis der SYSTEMATIK
DES TERRORS und die ihm zugrunde liegende Rationalitaet - und die hiess
einfach VERNICHTUNG VON MENSCHENLEBEN -
mehr und immer deutlicher an die Oberflaeche des Bewusstseins
trat. Noch heute ist es mir nicht moeglich, bei einem Gespraech mit
einem ehemaligen Haeftling von Auschwitz, der mir ueber das
Konzentrationslager erzaehlt, ueber Erlebnisse mit Kindern berichtet,
meine Emotionen gaenzlich auszugrenzen - moege dieser Zustand auch
niemals eintreten. Dies auch dadurch bedingt, als der Gespraechspartner
gerade dann, wenn er ueber Erinnerungen an Kinder im Konzentrationslager
berichtet, oftmals nicht anders kann, als zu weinen.
JEDES Kind, das
gezeugt und geboren wird, will angenommen sein und sich entfalten. Es
will leben. In jedem Menschenkind schlummern die vielfaeltigsten Moeglichkeiten
zu glueckhaftem Erleben und zu kreativer Entwicklung. Als krassest
denkbarer Gegensatz dazu sind die "Kinder von Auschwitz"
inzwischen zum Symbol geworden fuer das Grauen, welches unsere Epoche
der ueberwiegenden Mehrheit der Kinder, die unseren Planeten bevoelkern,
zumutet.
Es soll nun nicht
eine streng wissenschaftliche Abhandlung des Themas "Kinder in
Auschwitz" erfolgen. Auch kann im Rahmen eines Vortrages dieses
Thema nicht einmal annaehernd ausreichend ausgeleuchtet werden. Was hier
im besten Fall gelingen koennte, ist lediglich eine Andeutung.
Auschwitz war
bekanntermassen das groesste Vernichtungslager und auch das groesste
Konzentrationslager des nationalsozialistischen Deutschland. In
Auschwitz spiegeln sich saemtliche zentrale Aspekte und Dimensionen der
Massenvernichtung von Menschen und ihrer Alltagsrealitaet im
Konzentrationslagers. Die Anwesenheit von Kindern und Jugendlichen in
Auschwitz koennen wir in der gesamten Spannbreite ihrer Moeglichkeiten
erkennen.
Die Umgrenzung des
Themas "Kinder in Auschwitz" ergibt sich aus den Grenzen der
Sichtbarkeit von Kindern in den zur Verfuegung stehenden Quellen. Und
sie ergibt sich aus jenen Darstellungsgrenzen, die von anderen Autoren
dazu bereits gezogen wurden.
Einem einzelnen ist es aber unmoeglich, auch nur Teilbereiche aus dem
"Universum Auschwitz" in allen tatsaechlichen Aspekten ihrer
Realitaet zur Darstellung zu bringen. Alle Quellenbelege sind lediglich
Mosaiksteine - und als solche unentbehrlich - in einem ueberdimensionierten,
wahrscheinlich nie vollstaendig zu erhellenden Gesamtbild.
Das Thema
"Kinder in
Auschwitz" kann
von verschiedensten Seiten beleuchtet werden. Es kann auf der Ebene der
Ereignisgeschichte beschrieben
werden; die sozio-analytische Ebene kann zur
Geltung gebracht
werden kann, aber auch rein psychologische
Aspekte muessen in einer sich differenzierenden Analyse
herangezogen werden. Viele Wissenschafter und sonst Interessierte moegen
sich ihm zuwenden! Die fuer das Thema relevanten Quellen lassen sich in drei Gruppen einteilen:
Die erste Gruppe umfasst jene Dokumente, die der Ablauf der Geschichte
von Auschwitz hervorbrachte. Es sind dies im wesentlichen Dokumente der
Vorbereitung und Organisation der Deportationen, dann jene Dokumente,
welche die Administration des Lagers verdeutlichen. Hierher gehoeren
aber auch Materialien der
geheim operierenden Lagerwiderstandsbewegung.
Als zweite Gruppe stehen jene Quellen zur Verfuegung, die nach 1945 im
Zuge der kollektiven Aufarbeitung des vergangenen Geschehens im Rahmen
diverser Prozesse in mehreren Laendern angefertigt wurden. Selbstverstaendlich
finden sich hier auch die meisten Dokumente der ersten Gruppe als
Beweisunterlagen. Zu den nach 1945 entstandenen Quellen zaehlen auch die
zahlreichen autobiographischen Werke und historiographische,
soziologische, psychologische, psychiatrische und medizinische etc.
Arbeiten von Auschwitz-UEberleben.
Und nicht zuletzt muessen jene Quellen erwaehnt werden, die direkt im
Forschungsprozess vom Sachbearbeiter selbst erstellt werden: die
Interviews mit den UEberlebenden von Auschwitz.
Informationen zur Geschichte von Kindern und Jugendlichen sind relativ
spaerlich anzutreffen. Die Arbeit zu diesem Thema ist tatsaechlich eine
"Spurensuche". In fast allen erwaehnten Gruppen von Quellen
lassen sich diese Spuren auffinden. Im
folgenden seien nur ueberblicksmaessig zentrale Fragestellungen genannt,
die fuer eine sinnvolle Darstellung des Themas "Kinder in
Auschwitz" von besonderem Interesse erscheinen: 1)
Wann, von wo und warum gelangen Kinder nach Auschwitz? 2)
Was geschieht mit diesen Kindern und Jugendlichen unmittelbar nach ihrer
Ankunft in Auschwitz. 3)
Wo ueberall in Auschwitz finden sich Kinder und Jugendliche und welche
Lebens- und UEberlebensperspektiven gelten speziell fuer sie?
Auschwitz war urspruenglich als Quarantaenelager fuer die im Widerstand
aktive polnische Bevoelkerung, insbesondere deren Intelligenz, gedacht
und wurde in der Zeitspanne von Mai bis Juni 1940 mit dem Eintreffen der
ersten Haeftlingstransporte in Betrieb genommen wurde. Im Laufe seines
Bestehens entwickelte sich Auschwitz im Rahmen der "Endloesung der
Judenfrage", des "Generalplan Ost" sowie der
Verfolgungspolitik gegenueber den Sinti und Roma und der - unter Anfuehrungszeichen
- "politischen Gegnerbekaempfung" zu einer multifunktionalen
Maschinerie.
Neben allen anderen politischen, oekonomischen, wissenschaftlichen und
bevoelkerungspolitischen Zielsetzungen bestand die zentrale Aufgabe von
Auschwitz in der industriell bewerkstelligten Massenvernichtung von
Menschen. Rechtliche und organisatorische Grundlagen fuer die
Deportierung der verfolgten Menschen schuf das nationalsozialistische
Deutschland durch jene Verfuegungen und Erlaessen, die Voraussetzung fuer
ihre gesellschaftliche Ausgrenzung waren. Der "Volkskoerper"
sollte sowohl auf biologischer als auch ideologischer Ebene
"gereinigt" werden.
Einem Teil der nach
Auschwitz Deportierten wurde eine kurz- bis mittelfristige Lebensdauer
eingeraeumt. Ihre Arbeitskraft sollte wirtschaftlich restverwertet
werden; manche sollten als beliebig manipulierbare Versuchskaninchen der
medizinischen Forschung dienen; oder sie wurden vornherein nur fuer eine
begrenzte zeitliche Periode in Auschwitz untergebracht. Diese Menschen
wurden in den Haeftlingsstand des Konzentrationslagers integriert und
waren vor der sofortigen Vernichtung zunaechst verschont.
AErzte spielten bei
der Realisierung des Auschwitz-Plans eine entscheidende Rolle. Sie
nahmen Selektionen unter den ankommenden Transporten auf der Rampe, und
auch im Lager vor. AErzte ueberwachten den Mordvollzug in den
Gaskammern. Sie beratschlagten, wie der Toetungsprozess moeglichst
reibungslos abgewickelt und der Prozentsatz der Ermordenden auf den
Arbeitskraeftebedarf der angeschlossenen Industriebetriebe abgestimmt
werden koenne; sie gaben wichtige Hinweise fuer die Leistungssteigerung
der Verbrennungsanlagen. AErzte fuehrten medizinische Experimente an den
Gefangenen durch, deren Verlauf oftmals toedlich endete. Sie setzten
Unterschriften unter gefaelschte Totenscheine. Sie befahlen oder fuehrten
mitunter selbst die Toetung von Haeftlingen durch. Unter den betroffenen
Menschen waren immer auch Kinder und Jugendliche.
Bereits im Sommer
1941 bestimmte SS-Reichsfuehrer Heinrich Himmler Auschwitz zum
Massenvernichtungslager fuer Juden. Rudolf Hoess, der Kommandant von
Auschwitz, war besonders im Hinblick auf die in Auschwitz bevorstehende
massenhafte Toetung von Frauen und Kindern erleichtert, im Blausaeurepraeparat
Zyklon B ein effizientes Toetungsinstrument gefunden zu haben. In seinen
Erinnerungen schreibt er darueber.
Den Beschluessen
der Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 zufolge begann in Auschwitz
die planmaessige Ausrottung von Juden in eigens dafuer in Betrieb
genommenen Gaskammern. Ab dem Fruehjahr 1942 rollten die vom
Reichssicherheitshauptamt organisierten Transporte. Auschwitz wurde zu
einer "Todesfabrik", die mehr als eine Million Menschen
verschlang.
Im Zusammenhang
mit den
deportierten Kindern treffen
wir immer wieder auf eine wichtige, von der
SS getroffene
Regulierung in der Festsetzung der Altersgrenze,
naemlich das
Alter von sechzehn Jahren. Sie
wird unter
anderem geltend gemacht
in der Anfangsphase
der Deportationen,
als es
zunaechst einmal darum ging,
die erwachsenen
Maenner und
Frauen unter der juedischen
Bevoelkerung zum
Abschub zu
bringen; ersichtlich
wird dies u.a. in der dazu entstandenen Transportkorrespondenz.
Die Altersgrenze
bis zu sechzehn Jahren wurde seitens der SS auch geltend gemacht
bei den Zugangsselektionen
auf der "Rampe" Die erste nachweisbare Selektion auf der Rampe
fand am 4. Juli 1942 statt. Ohne dass die meisten der Betroffenen davon
wussten, bedeutete also Selektion fuer die einen sofortige Vernichtung,
also Tod! Und fuer die anderen bedeutete es zunaechst das nackte
Weiterleben im Konzentrationslager unter kalkulierten grauenvollsten
Bedingungen.
"Selektiert" wurde
nach blitzschnell erfassbaren optischen Kriterien,
aber ebenso nach
spontan erfragten zusaetzlichen Angaben, wie eben das Alter. Wer rein
aeusserlich aufgrund
des Wuchses
und der Physiognomie
einen "kindhaften"
Eindruck machte, war vornweg zum
Todes verurteilt. Dasselbe galt fuer Alte, Kranke, Schwangere und
Muetter, die mit ihren Kindern zusammen waren. Funktionshaeftlinge des
Kanada-Kommandos versuchten, den Ankommenden zu helfen. Sie gaben ihnen
Tips, wie sie ihr Alter "richtig" angeben sollten. Dies konnte
unter Umstaenden tatsaechlich in einen lebensrettenden Schwindel
umgesetzt werden. Elie Wiesel, der als knapp fuenfzehnjaehriger nach
Auschwitz deportiert wurde, gelang es - auch er und sein Vater hatten
den entscheidenden Hinweis von einem Haeftling erhalten -, sich bei der
Selektion als Achtzehnjaehriger auszugeben. Er wurde daraufhin als
arbeitsfaehig eingestuft.
Die allermeisten Menschen gingen aber ohne jegliche vorherige
Registrierung - viele ahnungslos - ins Gas. Der ehemalige polnische Haeftling
und Dichter Tadeusz Borowski gibt uns fuer diese Tatsache in seinem Werk
"Bei uns in Auschwitz" eine eindrucksvolle Beschreibung dieser
makabren Szenerie:
"Sie gingen langsam, in kleinen, losen Gruppen,
und hielten sich an den Haenden. Frauen, Greise, Kinder. Sie
gingen am Stacheldraht entlang und wandten uns ihre schweigenden
Gesichter zu. Mitleidig sahen sie uns an und warfen uns Brotstuecke zu.
Die Frauen nahmen ihre Armbanduhren ab, warfen sie ueber den
Stacheldraht vor unsere Fuesse und bedeuteten uns, dass wir sie behalten
duerften. Das Orchester am Tor spielte schneidige Foxtrotts und langsame
Tangos. Das Lager sah den Menschen zu. (...) Hinter den Menschengruppen
gehen ganz langsam die SS-Maenner, ermuntern die Menge mit gutmuetigem Laecheln
zum Weitergehen."
Manche Menschen wussten
oder ahnten, was auf sie zukommen wuerde. In ihrer Verzweiflung
versteckten Muetter ihre Kinder im Auskleideraum vor der Gaskammer unter
den abgelegten Kleiderbuendeln und hofften wohl auf ein Wunder. Der
SS-Mann Pery Broad beschreibt in diesem Zusammenhang vor allem
drastisch, was mit nachtraeglich aufgefundenen Kindern geschah:
"Manchmal kraehte noch unter einem Kleiderbuendel das Stimmchen
eines Kindes, das man vergessen hatte. Es wurde herausgezerrt,
hochgehalten und von irgendeinem der voellig vertierten Henkersknechte
durch den Kopf geschossen."
Frauen fanden noch
in dieser Situation die Kraft, beruhigend auf ihre Kinder einzuwirken
und das Bewusstsein des unmittelbar bevorstehenden Mordes von ihnen
fernzuhalten.
Die Zeitspanne bis zur Vernichtung konnte sich unter Umstaenden dann
verlaengern, wenn die in Auschwitz eintreffende Quantitaet von Menschen
die Leistungskapazitaet der Vernichtungsanlagen ueberstieg. Wenn
gewissermassen "Staus" in der "Abfertigung"
eintraten und jene Menschen, die zu warten hatten, zurueckgehalten
werden mussten.
Um fuer diese
Erfordernisse bestens eingerichtet zu sein und um auf den
"Produktionszyklus" der Vernichtungsmaschinerie entsprechend
flexibel reagieren zu koennen, richtete die Lagerfuehrung in Birkenau
sogenannte "Depot"-Lager ein. Es waren dies der Bauabschnitt
III, genannt "Mexiko", und der Bauabschnitt BIIc, welcher
phasenweise als Depot fungierte.
Im Fruehsommer 1944 wurden die ungarischen Juden vernichtet. Innerhalb
weniger Wochen wurden ueber 400 000 Menschen in die Gaskammern
getrieben. Eine auch in Auschwitz noch nie dagewesene Quantitaet an
Menschen. In dieser Zeit wurden die Bahngeleise bis direkt vor die
Krematorien II und III gebaut. Die "Rampe" war somit in das
innere Lagergelaende von Auschwitz-Birkenau verlegt. Noch problemloser
als bisher wollte man den Plan erfuellen koennen. Damit die
Vergasungskapazitaet mit der der ankommenden Transporte einigermassen
Schritt halten konnte, musste auch der mittlerweile stillgelegte Bunker
II wieder in Betrieb genommen werden. Da aber die Leistungsfaehigkeit
der Krematorien nicht mehr ausreichte, wurden im Freien offene
Verbrennungsgruben angelegt und zusaetzlich Menschen auf Scheiterhaufen
verbrannt.
Es entstand sogar Knappheit an Gas; und es soll wiederholt vorgekommen
sein, dass Menschen - unter ihnen Kinder - den Vergasungsvorgang ueberlebten.
Noch lebend wurden diese gemeinsam mit den Leichen der Vergasten
verbrannt. Hermann Langbein in seinem Bericht "Die Staerkeren"
dazu:
"Tatsaechlich, das Gas wird knapp. Immer neue
Transporte kommen. Einmal, als drei Tage die Zufuhren von
Menschen zum Krematorium stockten - Waggonmangel, sagte die SS -, ist Hoess
in Eile nach Budapest gefahren. Dann rollen wieder die Zuege und die
Schlote rauchen. Auch jetzt laesst er die Aktion nicht gefaehrden. Er
gibt Befehl, dass weniger Gas in die Gaskammern eingeleitet wird. Viele
werden nur betaeubt, nicht mehr getoetet, kommen also noch lebend auf
den Loren ins Krematorium und werden so verbrannt. Und noch einen Befehl
gibt Hoess, um Gas zu sparen: Vor den Krematorien werden im Freien
Holzstoesse errichtet. In das Feuer werden die Kinder ungarischer Juden
geworfen. Die Kinder deshalb, weil sie das geringste Gewicht haben. Aus
jedem Transport werden starke Maenner ausgesucht, die muessen die Kinder
- also auch ihre eigenen Kinder - lebend in die Flammen werfen. Als
letzte werden diese Maenner vergast. Unsere Genossen aus Birkenau
schreiben uns: 'Wir sehen, wie sich im brennenden Scheiterhaufen kleine
Flammenkugeln bewegen und herauskriechen."
Die SS war auf das Sorgfaeltigste bemueht, den gesamten
Vernichtungsvorgang moeglichst ruhig und reibungslos abzuwickeln. Sie taeuschte
ihre Opfer mit jeder nur denkbaren Raffinesse. Dennoch konnte es
vorkommen, dass Kinder bereits auf dem Weg in ihre Vernichtung
kurzerhand durch Erschiessen "erledigt" wurden; sie wurden totgetrampelt,
erschlagen, erwuergt, zerrissen, erschossen. In Auschwitz war der
Phantasie beim Morden keine Grenze gesetzt, geschweige denn auch nur
irgendeine Schranke gezogen.
Das quasi "haendische" Ermorden von Kleinkindern duerfte sogar
Methode gehabt haben, und wurde in Auschwitz gelegentlich praktiziert,
wenn "Unregelmaessigkeiten" auftraten. Dies zu einer Zeit, da
der Vernichtungsvorgang laengst mit industriellen Methoden effektiv
abgewickelt wurde und die "muehselige und anstrengende
Handarbeit" bereits "unrationell" geworden war.
Simon Gotland beschreibt in seiner Aussage im Frankfurter
Auschwitz-Prozess eine solch furchtbare Situation:
"Im Winter traf ein Transport von Juden aus
Weissruthenien in Birkenau ein. (...) Die Menschen in den Waggons
waren alle tot. (...) Die Leichen mussten auf Wagen geladen und ins
Krematorium gefahren werden. Dabei entdeckten wir ploetzlich ein etwa
siebenjaehriges Maedchen. Es lag im Arm seines Vaters. Der Vater war
tot, wie alle anderen Insassen dieser Waggons. Aber das Kind lebte noch,
es weinte. Die SS-Leute befahlen uns, das Kind mit den Leichen zusammen
ins Krematorium zu schaffen. Dort nahm es der SS-Unterscharfuehrer Moll
in Empfang. Er griff es vor unseren Augen an den Beinen und versuchte,
es auseinanderzureissen. Ich drehte mich um und lief weg."
Fuer Juden aus dem
Ghetto Theresienstadt wurde eine voruebergehende Sonderregelung
getroffen. Fuer diese Deportierten wurde im Herbst 1943 in
Auschwitz-Birkenau im Abschnitt BIIb ein Familienlager eingerichtet. Aus
Propagandagruenden liess man sie jeweils ca. sechs Monate am Leben. Im
Anschluss daran wurden sie vernichtet. Ausnahmsweise gelangten auf
diesem Weg auch juedische Kinder und Jugendliche in groesserer Anzahl in
das Konzentrationslager Auschwitz und mussten hier unter verheerenden
Verhaeltnissen leben.
Am 16. Dez. 1942 erteilte Himmler den sogenannten "Auschwitz-Erlass".
Er war die Voraussetzung fuer die Deportierung von Roma und Sinti nach
Auschwitz. Im Zuge der Ausfuehrungsbestimmungen zu diesem Erlass vom 29.
Jaenner 1942 wurden Roma und Sinti im sogenannten
"Zigeunerlager" des Birkenauer Bauabschnittes BIIe interniert.
Das Zigeunerlager existierte vom Februar 1943 bis Anfang August
1944. Ein Grossteil der Menschen fiel den katastrophalen
Lebensbedingungen zum Opfer. Und am 2. August 1944 wurde der noch
verbliebene Rest nach einer grossen Selektion in den Birkenauer
Gaskammern ermordet.
Das Zigeunerlager
und das Theresienstaedter Famlienlager wurden als Familienlager
installiert, was - der Bezeichnung entsprechend - bedeutet, dass die
Familien der Deportierten mit ihren Kindern im gleichen Lagerabschnitt
untergebracht waren. Innerhalb
der Familienlager wurden phasenweise Kinderblocks eingerichtet, um die
Kinder tagsueber besser unter Kontrolle halten zu koennen.
Waehrend des Einsatzes gegen die im gesamten deutschen Besatzungsgebiet
kaempfenden Partisanen und die sie unterstuetzende Zivilbevoelkerung
wurden ganze Familien verhaftet und verschleppt. Am 16. Dez. 1942 gab
das Oberkommando der Wehrmacht eine "geheime Kommandosache"
unter dem Titel "Bandenbekaempfung" heraus. Die
Einsatzkommandos im "Osten" und auf dem "Balkan"
werden darin zur Anwendung "allerbrutalster
Mittel" angehalten. Unter anderem heisst es: "Die "Truppe
ist daher berechtigt und verpflichtet, in diesem Kampf ohne Einschraenkung
auch gegen Frauen und Kinder jedes Mittel anzuwenden, wenn es nur zum
Erfolg fuehrt."
Solcherart verschleppte Kinder wurden in der NS-Terminologie
"Bandenkinder" genannt, ihr Alter reichte vom Kleinkind bis
zum Jugendlichen. "Bandenkinder" verbrachte man zumeist
gemeinsam mit ihren Familienangehoerigen mit groesseren Transporte in
Konzentrationslager, u.a. nach Auschwitz. Ab Herbst 1943 trafen aus der
Gegend um Minsk und Witebsk in Birkenau Transporte ein, manche von ihnen
ueber Maidanek als Zwischenstation. Fuer diese Kinder wurde im FKL des
Frauenlagers in Auschwitz-Birkenau ein Kinderblock eingerichtet. Eine UEberlebende
dazu:
"Irgendwann im Jahre 1943 ging im Lager die
Nachricht um, dass im Lager Kinder seien. Russische Frauen haetten
sie aus Witebsk gebracht. Ich weiss nicht, ob dies wirklich so war, aber
so erinnere ich mich eben. Fuer diese Kinder wurde ein einzelner Block
abgesondert/fuer die Kinder von 3-14 Jahren/, Kinder bis zu drei Jahren
konnten mit ihren Muettern zusammen bleiben."
In allen von Nazi-Deutschland ueberfallenen Laendern
kam ein sogenanntes Germanisierungsprogramm zur Anwendung. Die
planmaessige Raub- und Germanisierungsaktion wurde mit Ermaechtigung
Hitlers von Heinrich Himmler, eingeleitet und organisiert. Himmler
selbst hat in einer Rede ihr Motto der gesamten Aktion in eindeutige
Worte gekleidet:
"Das, was in den Voelkern an gutem Blut unserer Art vorhanden ist,
werden wir uns holen, indem wir ihnen, wenn notwendig, die Kinder rauben
und bei uns grossziehen."
Die Hauptaufgabe dieser Aktion bestand darin, das deutsche Volk und den
deutschen Staat auf Kosten der biologischen, wirtschaftlichen und
kulturellen Vernichtung der unterjochten Voelker aufzuwerten. Der Raub
von Kindern bildete einen integralen, einen der wichtigsten Bestandteile
dieses Programms.
Im Rahmen des Germanisierungsprogrammes wurden tausende zwei- bis zwoelfjaehrigen
Kinder ihren Eltern geraubt und deren sogenannte Eindeutschungsfaehigkeit
im Zuge einer aerztlichen Untersuchung ueberprueft. Danach wurden die fuer
wertvoll genug Befundenen unter Preisgabe der bisherigen Identitaet bei
deutschen Pflegefamilien oder aber in eigens dafuer vorgesehenen Heimen
untergebracht und aufgezogen. Der im Laufe dieses Prozesses als
"nicht brauchbar" abqualifizierte Rest konnte via Deportation
in Konzentrationslager geschickt werden. In diesem Zusammenhang ist wohl
ein Sonderbefehl Himmlers vom 6. Januar 1943 zu sehen, demzufolge
"rassisch wertlose Halbwuechsige maennlichen und weiblichen
Geschlechts den Wirtschaftsbetrieben der Konzentrationslager zuzuweisen
seien. Auslaeufer dieses Germanisierungsprogrammes erreichten auch noch
Kinder, die in Auschwitz gefangengehalten wurden. Es existieren
dokumentarische Belege, die beweisen, dass in Auschwitz internierte
Kinder aus der Gegend um Minsk und Witebsk von hier aus in das
Umsiedelungslager nach Potulice ueberstellt wurden.
Die brutale Umsiedlungspolitik unter der polnischen Bevoelkerung
bedeutete fuer Tausende Polen Verschleppung und Deportation. Ende 1942
gelangten "umgesiedelte" Kinder und Jugendliche aus Zamosc in
Suedpolen nach Auschwitz. Dass Anfang 1943 einige Dutzend von ihnen im Haeftlingskrankenbau
von Auschwitz I abgespritzt wurden, ebenfalls ist dokumentarisch belegt.
Im Zuge der Repressionsmassnahmen gegen die aufstaendische Warschauer
Bevoelkerung und nach der Niederschlagung des Aufstandes im August des
Jahres 1944 wurden tausende Warschauer in Konzentrationslager
verschleppt.
Wieder fielen der Deportation sowohl Erwachsene als auch Kinder und
Jugendliche zum Opfer. Als die ersten Transporte aus Warschau, in
Auschwitz-Birkenau eintrafen, waren unter ihnen hunderte Kinder. Aus den
taeglichen Berichten zur Lagerstaerke aus dieser Zeit geht hervor, dass
sich am 8. und 9. Oktober genau 370 Kinder aus Warschau im Lager
befanden. Diese Kinder wurden von den
Eltern getrennt in zwei eigens dafuer eingerichteten Blocks in
Birkenau untergebracht, einer davon war der im Lagerabschnitt BIa
befindliche Block 16. Blockaelteste
dieses Kinderblockes war die Polin Romualda Ciesielska. Mit dieser
Funktion hatte sie zugleich auch Aufsicht und Fuersorge fuer diese
Kinder zu uebernehmen. Manche der Kinder haben die Befreiung des Lagers
Auschwitz erlebt.
Von einem sofortigen Vernichtungsbefehl waren auch jene Kinder
betroffen, die im Verlauf standrechtlicher Exekutionen polnischer
Zivilbevoelkerung im Hof des Block 11 von Auschwitz I ermordet wurden.
Dort tagte in Abstaenden mehrerer Wochen das "Polizei-Standgericht
der Gestapo Kattowitz". In der Regel wurden hier Angelegenheiten
von polnischen Buergern zur Verhandlung gebrachte, denen illegale und
besatzungsfeindliche politische Taetigkeit vorgeworfen wurde.
Die Urteilsfindung erfolgte zumeist unter Anwendung brutalster
Foltermethoden und damit erpresster Gestaendnisse. Die regelmaessig gefaellten
Todesurteile wurden unmittelbar danach im Hof des Blocks 11 an der
sogenannten "schwarzen Wand" exekutiert. Ausserdem war
Auschwitz - ebenfalls die "schwarze Wand" - Hinrichtungsort
polnischer Zivilpersonen sowie Mitglieder der verschiedenen
Widerstandsgruppen, die bereits andernorts zum Tode verurteilt worden
waren.
Unter den vielen Verurteilten befanden sich haeufig ganze polnische
Familien mit ihren Kindern. Manchmal es sogar Kleinstkinder, die im Zuge
der Urteilsvollstreckung gemeinsam mit ihren Angehoerigen erschossen
wurden.
Der ehemalige Haeftling Dr. Boleslaw Zbozien gibt einen solchen Vorgang
wieder. Er konnte ihn, auf einem Tisch stehend, durch den verbliebenen
Spalt der vermauerten Fenster im Hof von Block 11 beobachten. Ein Mann,
eine Frau mit einem Kind auf dem Arm und zwei Kinder im Alter von etwa
vier und sieben Jahren werden zur Hinrichtung gefuehrt:
"Bis zum Lebensende wird mir die Szene im Gedaechtnis haften,
die sich vor unseren Augen abspielte. Die Frau und der Mann leisteten
keinen Widerstand, als Palitzsch sie vor die 'Todeswand' stellte. Alles
spielte sich in groesster Stille ab. Der Mann nahm die Hand des Kindes
zu seiner Linken. Das zweite Kind stand zwischen den beiden, und sie
hielten es ebenfalls an den Haenden. Das juengste Kind schmiegte die
Mutter an ihre Brust. Palitzsch schoss zuerst in den Kopf des Saeuglings.
Der Schuss in den Hinterkopf zertruemmerte den Schaedel (...) und
verursachte eine grosse Blutung. Der Saeugling zappelte wie ein Fisch,
aber die Mutter presste ihn noch fester an sich. Palitzsch schoss nun
auf das zwischen beiden stehende Kind. Der Mann und die Frau (...)
standen unbeweglich wie steinerne Denkmaeler. Palitzsch rang mit dem aeltesten
Kind, das sich nicht erschiessen lassen wollte. Er warf es zu Boden,
stellte sich dem Kind auf den Ruecken und schoss in den Hinterkopf.
Schliesslich erschoss er die Frau und ganz zum Schluss den Mann. Es war
schrecklich (...) obwohl spaeter noch viele Exekutionen vorgenommen
wurden, sah ich keiner mehr zu."
Eine der wenigen Moeglichkeiten fuer Kinder
der sofortigen Ermordung zu entgehen, war diejenige, wenn das
wissenschaftliche Interesse des Lagerarztes Dr. Josef Mengele auf sie
fiel. Besondere Bedeutung erlangte dies fuer juedische Kinder. Mengele
benoetigte "Versuchsmaterial" fuer Experimente an
Zwillingen, Zwergen sowie fuer Augenuntersuchungen und selektierte dafuer
Menschen aus den ankommenden Transporten oder aus dem Haeftlingsstand
des Lagers. Die zahlenmaessig
groesste Gruppe unter "seinen" Versuchskaninchen duerfte die
der Zwillinge gewesen sein. Insgesamt selektierte er mehrere Hundert
Zwillinge fuer seine Versuchszwecke. Einige Dutzend von ihnen konnten
Auschwitz ueberleben.
Aber auch als ganz
"normale" politische Haeftlinge wurden Jugendliche in
Auschwitz interniert; wenn sie zum Beispiel im polnischen Widerstand
aktiv waren. Unter den ersten Haeftlingen in Auschwitz befanden sich
polnische Schueler, welche Mitglieder der Pfadfinder waren. Jugendliche,
die als politische Haeftlinge ins Konzentrationslager eigewiesen wurden,
waren "Schutzhaeftlinge". Mithilfe eines
"Schutzhaftbefehls" konnten sie verhaftet und im
Konzentrationslager fuer unbegrenzte Zeit festgesetzt werden. Diese
Jugendlichen wurden von der Lagerverwaltung nie als Kinder eingestuft,
sondern ohne jegliche Ausnahmeregelung in den Stand der arbeitsfaehigen
Haeftlinge integriert.
Somit gelangten
Kinder und Jugendliche allein oder gemeinsam mit ihren Familienangehoerigen
in ueberwiegender Mehrheit juedische Kinder, Kinder von Sinti und Roma,
aber ebenso hunderte polnische Kinder und Kinder aus der ehemaligen
Sowjetunion nach Auschwitz.
UEberblicksmaessig
betrachtet, gab es die folgenden Moeglichkeiten fuer Kinder und
Jugendliche, in das Konzentrationslager Auschwitz zu gelangen und - wenn
mitunter auch nur voruebergehend - in den Haeftlingsstand des Lagers
offiziell oder inoffiziell integriert zu werden. Diese Aufzaehlung
erhebt keinen Anspruch auf Vollstaendigkeit: 1) Bei den Massenselektionen anlaesslich der Ankunft juedischer Transporte auf der Rampe wurde vom Arzt Arbeitsfaehigkeit "diagnostiziert". 2)
Schwindel bei der Altersangabe im Zuge
der Ankunftsselektionen. 3)
Vereinzelte Rettungsaktionen anlaesslich der Ankunft.
Otto Wolken konnte beispielsweise auf
abenteuerliche Weise Luigi Ferri, einen Jungen aus
einem Transport italienischer Juden vor der sofortigen
Vernichtung retten und in den offiziellen Haeftlingsstand
des Lagers integrieren. An der Seite von Otto Wolken
hat Luigi Ferri in Auschwitz seine Befreiung erlebt. 4) Schwangerschaft. Im Falle einer Juedin, die bei der Ankunftsselektion uebersehene Schwangerschaft. 5)
Kinder, die anlaesslich ihrer Ankunft als Versuchsobjekte
fuer medizinische Experimente ausgesucht wurden. 6)
Juedische Kinder und Jugendliche, die in das fuer Juden
aus dem Ghetto Theresienstadt temporaer begrenzt
eingerichtete Familienlager in Auschwitz-Birkenau,
Abschnitt BIIb, ueberstellt wurden. 8)
Kinder und Jugendliche von Sinti und Roma. 9)
Als "Bandenkinder". 10)
Kinder, die im Rahmen der Umsiedelungsaktionen unter
der polnischen Bevoelkerung deportiert wurden. 11)
Kinder, die im Anschluss an den Warschauer Aufstandes im
Jahre 1944 nach Auschwitz deportiert wurden. 12)
Kinder als politische Haeftlinge.
P A U S E
Als
"Aufenthaltsorte" von Kindern und Jugendlichen in Auschwitz
kann man alle jene Bereiche bezeichnen, wo diese im Vollzug des
Lagergeschehens sichtbar werden.
Und eben an diesen Orten
im Konzentrationslager treffen wir Kinder und Jugendliche wiederum an:
in den Blocks bei einer Entbindung - die im Falle juedischer Gebaerender
- oftmals heimlich erfolgte, in
der Gebaerabteilung des Krankenbaus im FKL, sowie in der meist sehr kurz
bemessenen Zeit nach ihrer Geburt; wir begegnen ihnen in den
medizinischen Versuchsabteilungen und in den entsprechenden
medizinischen Experimentiersituationen. Mengeles Zwillinge waren in
speziellen Abteilungen in den Haeftlingskrankenbaus des Frauenlagers,
des Maennerlagers und des Zigeunerlagers in Birkenau untergebracht.
Wir treffen auf
Kinder und Jugendliche im Theresienstaedter Familienlager und im
Zigeunerlager. Hier konnten Kinder in der Naehe ihrer Familienangehoerigen
bleiben. Ein kontinuierlicher Kontakt mit Verwandten und Freunden war
hier fuer die Dauer der gemeinsamen Unterbringung im Lagerabschnitt und
der Lebensdauer immerhin moeglich. Wie wichtig war gerade in der
lebensbedrohlichen Extremsituation fuer den einzelnen der Erhalt und die
Kontinuitaet familiaerer und kameradschaftlicher Kontakte. In den
Familienlagern befanden sich Kinder haeufig auf dem Lagergelaende und praegten
so das Erscheinungsbild als "Familien"lager auch optisch.
Jugendliche im
Arbeitseinsatz: zum Beispiel in den
vorwiegend mit juedischen aber auch polnischen Jugendlichen
besetzten Rollwagenkommandos; in den Maurerschulen; oder gar als Haeftlingsfunktionaere;
wir treffen sie an in der Naehe ihrer Beschuetzer und im Rahmen der
kleinen Arbeiten, mit denen sie von diesen beauftragt werden, zum
Beispiel die eines Laeufers;
Fuer manchen erwachsenen Haeftling, bedeutete die Moeglichkeit, ein Kind
zu betreuen, es vor der staendig drohenden Vernichtung zu beschuetzen
und mit dem zum Leben Noetigsten zu versorgen, wohl einen wichtigen
Anker in eine quasi "normale" Lebenssituation. Fuer ihn wurde
dieses Kind zu einem emotionalen und gedanklichen Gegengewicht gegen den
permanenten Lagerterror und seine Massenmordmaschinerie.
Die Behandlung der
nicht mehr direkt als Kinder erkennbaren in verschiedenen
Arbeitskommandos eingeteilten Jugendlichen unterschied sich von denen
der allermeisten Haeftlinge des Lagers nicht mehr im geringsten. Vorerst
war der "Vernichtungsdienst" fuer alle darin eingespannten -
insbesondere der juedischen - Haeftlinge nackte Rettung vor der fuer die
meisten auch in letzter Konsequenz ohnehin unausweichlichen Gaskammer.
Alle Haeftlinge, auch Kinder und Jugendliche, unternahmen jede
Anstrengung, ihr Leben von einem Augenblick in den anderen zu retten.
Von der Lageradministration bei der Registrierung von Kindern und
Jugendlichen im verwaltungstechnischen Bereich keine wesentlichen
Unterschiede zu den uebrigen Haeftlingen gemacht. Ihre Daten wurden in
die Nummernbuecher der einzelnen Lagerabschnitte aufgenommen und dazugehoerige
Karteikarten in den entsprechenden Blockschreibstuben erstellt. Sogar
Neugeborene erhielten eine Haeftlingsnummer. 1943, als man mit dem Taetowieren
begann, wurden von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen auch ihnen diese
Nummer in den linken Unterarm taetowiert. Da allerdings bei Neugeborenen
der Unterarm zu klein war, wurde diesen die Nummer in den Oberschenkel taetowiert.
Fuer die Neugeborenen des Zigeunerlagers haelt Vlasta Kladivova fest: "Im
Zigeunerlager kamen auch Kinder zur Welt. Gleich nach der Geburt wurden
sie Haeftlinge. Sie bekamen ihre Nummer in den Schenkel eintaetowiert
und wurden in das Evidenzbuch eingetragen, mit der Angabe - aehnlich wie
die Erwachsenen - der
Staatsangehoerigkeit und Nationalitaet,
Vor- und Zuname und Geburtsdatum. Als Geburtsort wurde Birkenau oder
Auschwitz angegeben. Uns ist es nicht bekannt, ob in anderen Dokumenten
auch nicht der Vorname der Eltern vermerkt wurde. Das war nicht so
wichtig. Die Lagerleitung war dessen bewusst, dass das eigentlich unnoetig
war, weil die Saeuglinge sowieso sterben mussten."
Maennliche Neugeborene, welche im FKL zur Welt kamen, wurden der
administrativen Korrektheit halber im Nummernbuch des Maennerlagers gefuehrt.
Hinter der jeweiligen Haeftlingsnummer befindet fuer einen solchen Fall
haeufig der Vermerk "FKL" bzw. "F.L." Die
administrative Prozedur war bemueht, jeden einzelnen Haeftling des
Konzentrationslagers ganz genau zu erfassen sowie seinen Zu- und Abgang,
bzw. etwaige UEberstellungen in andere Lagerabschnitte, andere Teillager
von Auschwitz oder ueberhaupt andere Konzentrationslager ausfuehrlichst
zu dokumentieren. Einer praezisen "Verwaltung des Todes"
durfte kein Abbruch geschehen.
Die im taeglichen
Leben des Konzentrationslagers einzig
benuetzte Identitaetszuordnung fuer die Identitaetskontrolle war die Haeftlingsnummer.
Dies galt auch fuer Kinder und Jugendliche.
Gerade die Reduktion auf das Dasein einer Nummer wird von UEberlebenden,
auch ehemaligen Kinderhaeftlingen, immer wieder als einschneidende Zaesur
erlebt. Halina Stempniak kam mit fuenfzehn Jahren im August 1944 aus
Warschau nach Auschwitz-Birkenau. Sie komprimiert diese Erfahrung in
einem einzigen Satz: "Im
Lager wurde mir mein Name genommen und mit der Nummer 83260
ersetzt."
Fuer Kleinkinder konnte dies nach laengerem Lageraufenthalt verbunden
sein mit dem Verlust der bis dahin erlernten Muttersprache und dem voelligen
Vergessen des eigenen Namens. Manche ueberlebende Kinder, die zum
Zeitpunkt ihrer Einlieferung lediglich ein paar Jahre alt waren, besassen
nach ihrer Befreiung nicht mehr das geringste Wissen ueber ihre urspruengliche
Identitaet. Maria Kupczynska-Lisikiewicz gelante mit ihrer Mutter und
ihrem juengeren Bruder am 14.4.1944 aus Witebsk in der Sowjetunion ueber
Majdanek nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurde. Sie gibt davon
Zeugnis: "Meine
Lagernummer 77332 ist auf meiner Hand sichtbar. Ich war in Birkenau und
war damals vier bis fuenf Jahre. (...) Nach einigen Monaten Verbleib im
Lagern haben wir unsere Muttersprache vergessen, unsere Sprache war eine
Zusammenstellung von verschiedensprachigen Woertern und Bezeichnungen,
weil wir Kinder aus verschiedenen Laendern Europas waren. Wenige nur und
besonders nicht die juengeren Kinder hatten in Erinnerung ihre Namen,
weil wir uns nicht den Namen merken sollten, sondern die
Lagernummer."
Eine inzwischen
sehr gut bekannte Tatsache ist es festzuhalten,
dass Kinder und Jugendliche denselben katastrophischen Lebensbedingungen
ausgesetzt waren wie alle uebrigen Haeftlinge. Untergebracht waren sie
in den Haeftlingsblocks, deren Baustruktur, innere Ausstattung und
permanente UEberbelegung allein den grundlegendsten Beduerfnissen einer
gesicherten und geordneten Unterbringung Hohn sprach. Sie lebten
entweder in eigenen Kinderblocks oder gemeinsam mit anderen erwachsenen
Haeftlingen in deren Blocks. Ihre Schlafplaetze waren zumeist stinkende
und verdreckte Kojen. Die Kleidung bestand aus Lumpen und die Ernaehrung
war die erwiesen kalkuliert mangelhafte. H. F. beispielsweise
bezeichnet das Essen als eine "undefinierbare Sache, meistens aus
Steckrueben", "manchmal war sie pappig, aber meistens war sie
waessrig".
Der permanente Hunger brachte die betroffenen Menschen dazu, staendig an
Essbares zu denken. Von einem 9-jaehrigen Jungen berichtet Otto Wolken,
dass dieser sich sehr genau ueberlegte, wem er seine Schuhe ueberlassen
koennte, als ihn der Lagerarzt zum Vergasen aufgeschrieben hatte. Vor
seinem Tod hatte aber nur noch einen Wunsch, naemlich den, sich einmal
noch sattessen zu koennen.
Die hygienischen
Einrichtungen waren nicht nur in voellig unzureichendem Mass bis gar
nicht vorhanden. Ihre Benuetzung wurde auch durch die in saemtlichen
Bereichen des Konzentrationslageralltags wirksame Vermassung zusaetzlich
erschwert. Dieses Phaenomen galt fuer ganz Auschwitz, aber besonders
dramatisch tritt es in Erscheinung, wenn wir uns die Situation von
Kindern in einem der Birkenauer Blocks bzw. Krankenbaus vorstellen. Die
kranken Kinder konnten nicht ordnungsgemaess behandelt werden, sodass
sich insbesondere ansteckende Krankheiten epidemisch im Block
auszubreiten vermochten. Wiederum sei Vlasta Kladivova angefuehrt. Sie
beschreibt die Situation fuer die allererste Bestehenszeit des
"Zigeunerlagers" in folgender Weise: "Die
Bloecke waren nicht beheizt und mehrere Kinder gezwungen, sich vor Kaelte
gegenseitig anschmiegend, von einer Decke Gebrauch zu nehmen. Bevor in
den Bloecken die Suppe verteilt wurde und sie sie bekamen, war sie lau,
ebenso der "Tee" oder "Kaffee". Kein Wunder, dass sie schnell die
Gesundheit verloren. Weil die Krankenbloecke erst Ende Maerz entstanden
sind, mussten die gesunden und kranken Kinder zusammen sein, sogar oft
mit ihren Eltern auf den Pritschen - in ueberfuellten Bloecken, ohne
jegliche Hilfe von AErzten und Medikamenten.
Bei solch einer grossen Konzentration von Kindern in dieserart Verhaeltnissen,
verbreiteten sich schnell die gewoehnlichen, ueblichen
Kinderkrankheiten. Der Hauptgrund der wachsenden Erkrankungshaeufigkeit
und Grosser Sterblichkeit unter den Kindern war ganz einfach die nicht
ausreichende Ernaehrung."
Eine schreckliche
und das allgemeine Grauen noch verstaerkende Plage waren die in Birkenau
massenhaft hausenden Ratten, die reichlich Nahrung fanden und die Groesse
von Katzen erreichten. Sie nagten die vor den Blocks aufgeschichteten
Leichen an, befielen in den Blocks die geschwaechten und vollkommen
wehrunfaehigen Haeftlinge. Unter ihnen auch neugeborene Kinder. Ratten fuehlten
sich so sicher, dass sie sich vollkommen ohne Angst im Lagergelaende
bewegten. Ratten toeteten Kinder waehrend des Schlafes, und H. F.
hoerte einmal, wie eine Mutter in rasender Verzweiflung schrie:
"Die Ratten fressen mir die Kinder auf."
Als im Wachstum
Befindliche waren Kinder und Jugendliche der Lagerrealitaet noch
schonungsloser ausgeliefert als die ohnehin fuer erwachsene Haeftlinge
der Fall war. Ihre Krankheitsanfaelligkeit stieg verhaeltnismaessig zu
der durch die physische Auszehrung verursachte Schwaechung der Abwehrkraefte
des Koerpers, eine extrem hohe Sterblichkeit, besonders unter den
Neugeborenen, war die Folge: "Zuerst
starben die Kinder. Tag und Nacht weinten sie nach Brot; bald waren sie
alle verhungert. Auch die Kinder, die in Auschwitz zur Welt gebracht
wurden, haben nicht lange gelebt. Das einzige, worum sich die SS bei
diesen Neugeborenen kuemmerte, war, dass sie gleich ordnungsgemaess taetowiert
wurden. Die meisten starben wenige Tage - hoechstens zwei Wochen nach
ihrer Geburt. Es gab keine Pflege, keine Milch kein warmes Wasser,
geschweige denn Puder oder Windeln."
Aus all dem bisher
Geschilderten wird verstaendlich, dass die Haeftlinge von allgegenwaertiger
Angst gepeinigt wurden. In welch besonderem Masse gilt dies gerade fuer
die juengsten Haeftlinge. Blandyna Kulczycka-Redel, die im Herbst 1944
als Jugendliche mit den Transporten aus Warschau nach Auschwitz-Birkenau
deportiert wurde, drueckt dieses zentrale Empfinden aus: "Ich
kann mich erinnern, was fuer ein schreckliches
Erlebnis fuer mich die Ankunft im Lager war. Es war Nacht. Das
Geschrei der SS-Maenner und Capos, Schlaege, die brennenden und am Draht
befestigten Lampen, der Gestank aus dem Krematorium, das alles erzeugte
eine unheimliche Vision. Und dazu die Angst, die schreckliche Angst,
welche mich niemals verlassen hat bis zu meiner Befreiung. Zu jeder Zeit
und in jedem Moment hatte ich panische Angst vor allem. Ich war wie ein
gehetztes Tierchen."
Die emotionale
Dauerueberforderung fuehrte bei vielen Kindern und Jugendlichen unter
anderem zur psychischen Dekompensationsform des Bettnaessens. Wanda
Draminska berichtet dies von Kindern, die mit Transporten aus Warschau
kamen und im Kinderblock untergegracht waren. Sie berichtet aber auch
von gewalttaetigen Disziplinierungsmassnahmen gegenueber denen, die
durch dieses Bettnaessen negativ aufgefallen waren:
"Noch
heute, nach so vielen Jahren, kann ich nicht ruhig sprechen, wenn mir im
Lager gesehene Szenen vor Augen stehen. Es kam vor, dass sich einige
Kinder einer Familie im Lager befanden. Die AElteren, die z.B. 9 Jahre
alt waren, beschuetzten die Juengeren. Ich habe das alles mit eigenen
Augen gesehen, da man mich als Schwangere in demjenigen Block
untergebracht hatte, in dem die Kinder sich aufhielten. Das war eine
gemauerte Baracke, doch an die Nummer kann
ich mich nicht erinnern, auch erinnere ich micht an den Namen der
Blockaeltesten. Die Funktion der Blockaeltesten hatt ein weiblicher Haeftling
inne, deren Vorname Maria war. Wenigstens scheint es mir so. Sie
verstand sehr wenig polnisch. Ich werde auch niemals die Gestalt der
Stubenaeltesten vergessen - ihren Namen weiss ich nicht - die die Kinder
schlug, sogar die allerjuengsten, wenn eines von ihnen waehrend des
Schlafes sich nass gemacht hatte. Die fuer die kleinsten sorgenden aelteren
Kinder, die dies wussten, nahmen die Kleinen von ihrem Lager und setzten
sie auf den Kuebel, um sie nur ja vor den Schlaegen zu bewahren."
Einigermassen
generalisierend kann gesagt werden, dass die UEberlebenschancen von
Kindern und Jugendlichen je nach "rassischer" Zuordnung, nach
dem Alter, dem jeweiligen Aufenthalts"ort" im
Konzentrationslager und der Haftdauer, d.h. dem Zeitpunkt der
Einlieferung ins Lager unterschiedlich zu beurteilen sind.
Die
durchschnittliche UEberlebensdauer der Haeftlinge lag je nach Jahreszeit
und Arbeitseinsatz in einer Zeitspanne zwischen einigen Wochen und
einigen Monaten. Die durch die herrschenden
Lagerverhaeltnisse am meisten beguenstigte Haeftlingsgruppe war
diejenige der Achtzehn- bis Dreissigjaehrigen. Und allein aus dieser
Tatsache ergibt sich, dass die UEberlebenschancen von Kindern und
Jugendlichen stark verringert bis aussichtslos waren.
Fuer juedische Haeftlinge galt bekanntlich die generelle Maxime, dass
sie "durch den Kamin" zu wandern haetten, was ihre UEberlebenschance
- von den wenigen Ausnahmefaellen wie beispielsweise diejenige der
Zwillingspaare oder Mitglieder von Rollwagenkommandos und Maurerschulen
- abgesehen, praktisch gleich Null werden liess.
Wurde die waehrend der Zugangsselektion uebersehene Schwangerschaft
einer als arbeitsfaehig eingestuften Juedin spaeterhin offensichtlich,
konnte an ihr zeitlich unbegrenzt eine Abtreibung eingeleitet werden, um
nach Moeglichkeit keine Arbeitsstunden zu verlieren, dies allerdings
konnte mitunter auch den Tod der Schwangeren selbst zur Folge haben.
Aber auch Haeftlingsaerztinnen und Haeftlingsaerzte nahmen, um das Leben
der Frauen zu schuetzen, Abtreibungen vor. Konnte eine Juedin eine
Schwangerschaft bis zur Geburt austragen, so wurde in der Regel ihr
Kind entweder unmittelbar nach der Geburt ermordet, oder aber die Mutter
und ihr neugeborenes Kind kamen gemeinsam ins Gas.
Von jenen polnischen und russischen Kindern, die im Laufe der Jahre 1943
und 1944 nach Auschwitz deportiert und nicht in andere Lager ueberstellt
wurden, blieben zumindest einige hundert am Leben. Dafuer haben wir in
der ungefaehren Anzahl der zum Zeitpunkt der Evakuierung und Befreiung
von Auschwitz Ende Januar 1945 noch im Konzentrationslager anwesenden
Kinder wenigstens Anhaltspunkte.
Kaum eine UEberlebenschance
hatten Kinder von Sinti und
Roma. Julius Hodosi, der mit seiner ganzen Familie, darunter auch seine
Tochter Berta im Kleinkindalter, aus Lackenbach nach Auschwitz-Birkenau
deportiert wurde, haelt sein diesbezuegliches Erleben in dem von ihm
nach 1945 handschriftlich angefertigten Bericht so fest:
"Meist hat es die kleinen Kinder erwischt. Da ist uns auch
unsere kleine Berta krank geworden. Sie hat nur drei Wochen im Lager
gelebt ..., weil die Kinder nicht die richtige Nahrung bekommen haben
... Das arme Kind hatte starke Magenschmerzen und Durchfall gehabt.
(...) Das tote Kind musste ich in eine Baracke tragen. Dort wurden die
Leichen gesammelt [und dann] auf ein Lastauto geschmissen. Und dann ist
es mit den Toten ins Krematorium ... [gekommen], wo schliesslich die
Leichen verbrannt wurden."
Diese Kinder hatten
auch dann kaum eine Moeglichkeit, Auschwitz zu ueberleben, wenn es ihnen
"geglueckt" war, bis Ende Juli 1944 am Leben zu bleiben, da
sie schliesslich doch der grossen Liquidation des Zigeunerlagers im
August 1944 zum Opfer fielen.
Wegen der nach
Westen vorrueckenden siegreichen russischen Armee veranlasste die SS am
17. und 18. Januar 1945 die Evakuierung des Lagerkomplexes Auschwitz.
Zurueckgelassen wurden nur gaenzlich transportunfaehige Haeftlinge und
einige sie betreuende AErzte und Pfleger.
Am Nachmittag des
27. Januar 1945 um 15.00 Uhr erreichte die 60. Armee der Ersten
Ukrainischen Front Auschwitz und befreite die dort noch befindlichen Haeftlinge.
Die Pflegerin Mira
Honel, die ebenfalls bis zur Befreiung in Auschwitz blieb, gibt
"die Zahl der in Birkenau befreiten Kinder mit 270 an". Der
polnische Historiker Czeslaw Pilichowski haelt folgendes fest: "Im
Bericht der sowjetisch-polnischen Kommission, die die Naziverbrechen in
Auschwitz untersuchte, wird festgestellt: 'Unter den in Oswiecim
Befreiten und von AErzten untersuchten waren 180 Kinder, davon 52 unter
8 Jahren und 128 zwischen dem 8. und 15. Lebensjahr.' (...) Die aerztliche
Untersuchung ergab, dass 72 Kinder Lungen- und Druesentuberkulose
hatten, 49 an den Folgen von Unterernaehrung und voelliger Erschoepfung
des Organismus und 31 an Erfrierungen litten.'"
Die Sowjets drehten
anlaesslich ihrer Ankunft in Auschwitz einen Dokumentarfilm, auf ihm
sind die befreiten Kinder zu sehen. Unter ihnen befand sich auch Luigi
Ferri mit seinem Retter Dr. Otto Wolken.
An den Schluss
dieser Ausfuehrungen seien mir noch einige wenige UEberlegungen
gestattet. Kann man um Auschwitz trauern?
Die langjaehrige und vielgestaltige Konfrontation mit Auschwitz veranlassen
mich, diese Frage so und nicht anders zu stellen. Mehrmalige Aufenthalte
in der Gedenkstaette in Polen, ausgedehnte Gespraeche mit UEberlebenden
dieses Konzentrationslagers, die Lektuere zu Auschwitz, aber auch
Gespraeche mit Freunden und Bekannten weckten und verstaerkten
meinen Eindruck, dass eine Verweigerung der Trauerreaktion sich nicht
allein in den Taetern festgesetzt hat. Sie kann ebenso bei Opfern
auftreten und Nachgeborene von einer ausfuehrlichen, auch den Gefuehlsbereich
erfassenden Anteilnahme mit dem Geschehen in und um Auschwitz fernhalten.
Trauern ist nicht leistbar. Trauern, vor allem, wenn der emotionale
Bereich ausgeschritten wird, ist ein ungeheuerlicher Aufwand an Zeit,
eine exzessive Mobilisierung von Gefuehlen und Gedanken. Der hoechst
komplexe und komplizierte Prozess der Trauer hat im Gegensatz zum
kalkulierten Arbeitsprozess so ganz und gar nichts Planbares, in
Details Vorhersehbares an sich. Im Gegenteil, er ist zuweilen
chaotisch und zutiefst irrational, gemessen an rationalen
Handlungsvorgaben. Der Ausgang ist ungewiss. Trauer als
ganzheitlicher, die gesamte Persoenlichkeit des Menschen erfassender und
umfassender Vorgang, entzieht sich der Kontrolle im Hinblick auf einen
etwaigen Erfolg.
Trauer ist auch eine aeusserst leidvolle Erfahrung, da sie den
Trauernden abermals empfindlich werden laesst fuer den Schmerz, der sich
wieder einstellt. Wir kommen aber nicht umhin, diesen Schmerz noch
einmal wahrzuhaben und "wahrzumachen": "Denn
wir wollen alle sehend werden. Und jener geheime Schmerz macht uns
erst empfindlich und insbesondere fuer die der Wahrheit. Wir sagen
sehr einfach und richtig, wenn wir in diesen Zustand kommen, denn
hellen, wehen, in dem der Schmerz fruchtbar wird: Mir sind die Augen
aufgegangen." Sagt
Ingeborg Bachmann. "Was
Auschwitz war, wissen nur die Haeftlinge. Niemand sonst." Martin Walser hat uns diesen Satzzz formuliert.
Was Trauer fuer einen UEberlebenden bedeutet, ist auch nur ein solcher
imstande zu sagen, niemand sonst. Jean Amery schleudert die folgenden Saetze
vor uns hin:
"Man mag mir aber glauben, dass ich mich muehelos davor bewahre,
denn wir alle haben uns in den Kerkern und Lagern des Dritten Reiches
unserer vollkommenen Hilflosigkeit wegen eher verachtet als beweint,
die Versuchung zu Selbstverwerfung hat sich in uns ebenso erhalten
wie die Immunitaet gegen Selbstmitleid. Wir glauben nicht an Traenen."
Kommt darin nicht geradezu eine Unfaehigkeit zur Trauer fuer den zum
Opfer gewordenen zum Ausdruck?
H. F. gab mir als Interviewpartner eine zu Jean Amery
unterschiedliche, in ihrer Quintessenz jedoch ebenso beklemmende Aussage
zu Protokoll: "Trauer
umfasst das Spektrum der Trauer. Nichts anderes. Trauer ist ein
Einstehen fuer ein Geschehnis, dem man machtlos und hilflos gegenuebergestanden
ist. Es gibt verschiedene Arten zu trauern. Es gibt nicht nur, sich
Asche ueber den Kopf schuetten oder die Kleider zerreissen oder die
Haare raufen und stundenlang weinen und knieen und sich kasteien. Das
sind so extreme Formen der Trauer. Aber es gibt eine Form der Trauer,
die aus einem nicht mehr herauskriecht. Man ist die Trauer." Ein
UEberlebender ist zu dieser Trauer verurteilt. Er ist ein von der Trauer
UEberwaeltigter.
Den Taetern wurde wiederholt Verweigerung der "Trauerarbeit"
vorgeworfen. Aber hier stellt sich die Frage, ob Taeter ihre Opfer
betrauern koennen. Ist ihnen das ueberhaupt moeglich? Zumal die meisten
der Angeklagten in keiner Weise Traurigkeit oder gar Reue ueber die
ihnen angelasteten Verbrechen zeigten.
In welcher emotionalen und intellektuellen Verfassung war
ein Mensch, der wie Rudolf Hoess jahrelang Vernichtung und
Verwaltung von Menschenmassen auf engstem Raum und mit knappest
kalkulierten Mitteln organisiert? In welcher Verfassung war ein Mensch,
der an der "Rampe" mit einem Fingerzeig ueber Leben und Tod
entscheidet? Wie sieht es in jenem SS-Mann aus, der imstande ist, einen
Saeugling an einer Wand zu zerschmettern? In diesem "Nachtwald
voller Fragen" (Ingeborg Bachmann) moechte man sich angeekelt
von solchen Taetern abwenden und nicht sich ein Bild machen muessen ueber
ihre Motive, ihre Verfassung, ihre Geschichte.
Weil aber auch die Taeter nichts anderes sind als "Menschen wie
du und ich" (Martin Walser), bleibt uns eine tiefgehende
Auseinandersetzung mit ihnen nicht erspart. Werden wir nach jenen Gruenden
zu suchen haben, die sie eben gerade als Menschen zu ihrer Taeterschaft
befaehigt haben. Diesen Fragen muessen wir uns rueckhaltlos zu stellen,
insbesondere dann, wenn wir ueber die Trauer der Taeter nachdenken. Und
wie koennen wir, die Nachgeborenen, zu einer Auschwitz angemessenen
Trauer finden?
Ein Nachgeborener mag von einem Beruehrungsschock nicht verschont
bleiben. Auch seine Gefuehle koennen bei einer Begegnung mit Auschwitz
bis zur Unkenntlichkeit durcheinandergewirbelt werden, um sich dann
bei gegebener Zeit erst wieder als Schmerz bemerkbar zu machen. "Angesichts
von Auschwitz aber ahne ich, dass es auch moralisch schwer angreifbare
Gruende gibt fuer die Unfaehigkeit zu trauern."
Peter von Becker hat die Gedenkstaette Auschwitz-Birkenau besucht und
ist dort zu dieser wohl auch ihn erschreckenden und beinah resignierenden
Einsicht gelangt. Er sagt nicht, dass Trauer um Auschwitz unmoeglich
sei, aber er spricht Schock und Sprachlosigkeit an, die sich
wahrscheinlich in jedem zunaechst einmal einstellen, wenn er sich nah an
den "Ort der Erinnerung, dass das Menschheitsende menschenmoeglich
ist", heranwagt.
Fuer alle, denen Auschwitz nahegekommen ist, die von Auschwitz im
wahrsten Sinne des Wortes ueberwaeltigt wurden, gilt: der subjektiven
Rezeptionsfaehigkeit sind gerade im emotionalen Bereich Grenzen
gezogen. Einem einzelnen Menschen ist es unmoeglich, sich mit Millionen
von Toten und ungezaehlten der grauenvollsten Schrecken mit den Gefuehlen
zu identifizieren.
Nach dem inneren Aufschrei und der Verstoerung stellen sich einige
wenige Erklaerungen fuer das Vorgefallene ein, tuermen aber sofort
neue sich Fragen auf. Jean Genet sagte einmal: "Ich
bin ein Moralist, aber ich moralisiere nicht."
Eine wichtige Voraussetzung fuer Trauern ist zuerst die Nichtbewertung
nach gaengigen normativen Wertskalen. Wenngleich auch die Schlussfolgerungen
fuer Ethik und Moral aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse hoechst
stringent und konsequent sein muessen, so geht Trauer selbst doch gaenzlich
ohne moralische Apodiktik vor sich.
Indem wir Nachgeborene um Auschwitz trauern, wollen wir es erkennen und
verstehen, in seiner Universalitaet wollen wir das gesamte Kompendium
menschlicher Verhaltensmoeglichkeiten betrachten lernen. Dass unser
Mitgefuehl den Opfern gehoert, bedarf nicht der Erklaerung. Verstehen
wollen wir aber auch die Taeter.
Haeftlinge haben Auschwitz mit ihren Koerpern und ihren Erinnerungen ueberlebt.
An uns ist es nun, mit ihrer Hilfe Auschwitz mit unseren Herzen und
Hirnen zu ueberleben. |