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Die Samaria - Schlucht
Eine geschichtstraechtige Schlucht Europas
von Margaretha Rebecca Hecht Hopfner |
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Die Samaria-Schlucht gehoert sicherlich zu jenen Orten in Kreta, die ueber Jahrtausende hinweg entscheidend zur kretischen Identitaetsbildung beigetragen haben. Die Mythologie erzaehlt uns, dass die Schlucht von einem Titan erschaffen wurde, indem er das Erdinnere mit einem Messer aufschlitzte. In weiterer Folge kamen Kretas Koenige an diesen Ort, um hier ihren Goettern zu opfern. Dort, wo sich heute die Kapelle Ajios Nikolaos befindet, vermuten Historiker die antike Stadt Kaino, in welcher laut Mythos die Goettin Britomartis (Diktynna), die kretische Artemis, geboren worden sein soll, und an der Stelle des heutigen Ajia Roumeli lag die bedeutende antike Stadt Tarras mit ihrem Apolloheiligtum. Apollo zeugte hier mit der Nymphe Akakalida die Zwillinge Phylakides und Philandros, die in ihrer Kindheit von einer Bergziege ernaehrt wurden. Bereits in der Antike findet die Schlucht wegen ihrer besonderen Rolle und ihrer faszinierenden landschaftlichen Schoenheit mehrfach Erwaehnung.
Im weiteren Verlauf der Geschichte spielte die Samaria-Schlucht vor allem in den Jahren der Fremdherrschaft und Besatzung auf Kreta - insbesondere der Venezianer, Tuerken und der Deutschen - neben anderen Schluchten und Bergregionen, vor allem jenen in den Weissen Bergen, den Lefka Ori, eine wichtige Rolle als Refugium fuer widerstandswillige Kreter aus der Region von Sfakia, die sich hier - oftmals gemeinsam mit ihren Familien - vor feindlichen Angriffen in Sicherheit brachten und in gefahrvollen Zeiten ausharrten. Das nunmehr verlassene Dorf Samaria im unteren Drittel der Schlucht legt davon heute noch Zeugnis ab. An den Portes, der Eisernen Pforte, jener Verengung der Felsstuerze wenige Kilometer von ihrem suedlichen Ende entfernt, weist die Schlucht nur noch eine Breite von cirka 3,5 m auf. Hier wurden in der zweiten Haelfte des 18. Jahrhunderts Entscheidungsschlachten der Kreter gegen die Tuerken geschlagen, und waehrend des Zweiten Weltkrieges gelangte der damalige griechische Koenig Georg auf diesem Weg nach Agjia Roumeli am Lybischen Meer, von wo aus er per Schiff in das aegyptische Exil verbracht wurde.
In der Samaria-Schlucht leben zahlreiche Pflanzen, Hunderte Gattungen sind endemisch, das heisst, sie kommen nur hier vor. Eine nicht nur hier lebende - das Dyktamen (Origanum Dictamnus) - gedeiht bevorzugt an besonders schwer zugaenglichen steilen Felsritzen, ihr werden schon in der Antike besondere Heilkraefte zugeschrieben (zum Beispiel von Hippokrates), denn bereits damals erwaehnten Schriftsteller, dass die Wildziege sie Pflanze frisst, um ihre Wunden zu heilen. Diese besondere Heilpflanze reicht in Kreta der Braeutigam als Liebesgabe an die Braut, zumal das Dyktamen ebenfalls seit mythischen Zeiten, in welchen sie der Goettin Britomartis (Ditkynna) geweiht war, als Heilkraut fuer Schwangerschaft und Geburt gilt, aber der Braeutigam auch durch die Gefahr beim Einsammeln der Angebeteten seinen Mut unter Beweis stellen kann. Heute koennen wir diese hoch geschuetzte Pflanze, die fuer diesen Zweck selbstverstaendlich angebaut und nicht mehr unter Lebensgefahr gepflueckt wird - als Tee kaufen und so ein wenig ihre Heilkraft in uns wirken lassen.
Ebenso bietet die Schlucht zahlreichen - insbesondere gefiederten - Tieren attraktiven Lebensraum: da erfreuen sich Falken, Eulen, Raben, Rebhuehner, Goldadler, Geier, Turteltauben, Wachteln, Schnepfen, Wiedehopfe, Drosseln, Nachtigallen, aber auch Kleintiere wie Marder, Dachse und Hasen eines schoenen Lebens. Das wohl bekannteste Tier, das in der Samaria-Schlucht als noch einzigem Ort zu Tausenden in vollkommener Freiheit lebt, ist jedoch die kretische Wildziege (Capra aegagrus cretica), das Kri-Kri, wie die Kreter es liebevoll nennen. Seit dem Altertum gilt dieses Tier als Wahrzeichen der Schlucht, ja gar als heiliges Tier, und zahlreiche kuenstlerische Darstellungen legen ueber Jahrtausende hin davon Zeugnis ab. Das Kri-Kri ist sehr scheu und schwer zu erspaehen, dennoch haben einige Exemplare wohl wegen der in den Sommermonaten durchstroemenden Menschenmassen ihre natuerlichen Hemmungen verloren und tummeln sich auf dem Gelaende des verlassenen Dorfes Samaria, das heute Forststation und zugleich Ruheplatz fuer die Wanderer ist, auf ihrer Suche nach Nahrung. So hoch geachtet wurde und wird die kretische Wildziege von den Kretern, dass es als "ehrloses Tun" galt und gilt, ein weibliches Tier oder ein Junges zu toeten.
Auch eine klimatische Eigenart zeichnet diese an Besonderheiten reiche Landschaft aus. Hier sei ein Ort in Kreta, an welchem sich das mildere mediterrane Klima im Norden der Insel vermischt mit dem heissen quasi nordafrikanischen Klima des Suedens, zwei Klimazonen also treffen zusammen. Diese Vermengung und Vereinigung sei ausserordentlich gesund fuer den menschlichen Organismus, sodass in frueheren Zeiten Menschen mit Lungenleiden sich so lange in der Schlucht aufhielten, dort einige Wochen lebten, bis sie Linderung bei ihrer Krankheit feststellten. Ob dies heute auch noch praktiziert wird, kann ich nicht mit Sicherheit sagen.
In den Sechzigerjahren wurde die Samaria-Schlucht zum Nationalpark erklaert, und der Europarat kuerte sie zur schoensten Schlucht in ganz Europa. Tausende Touristen wandern in den Sommermonaten taeglich auf einem streng vorgegebenen Pfad die 16 km von Xiloskalo auf der Omaloshochebene (42 km von Chania entfernt) bis nach nach Ajia Roumeli am Lybischen Meer. Zahlreiche Forstangestellte achten sehr genau auf die Einhaltung saemtlicher Spielregeln (Nichtabweichen vom erlaubten Weg, Rauchverbot mit Ausnahme besonderer gekennzeichneter Stellen, Einhaltung der Ruhe, um die Tiere nicht zu stoeren etc.). Viele Wanderwillige sind mit voellig unzureichendem Schuhwerk unterwegs, oder aber sie unterschaetzen die Strapazen, denen sie waehrend der stundenlangen Wanderung ueber Stock und Stein und grosser Hitze ausgesetzt sind. Moeglicherweise liegt dies aber auch daran, dass von den Veranstaltern der Wanderungen nicht eindringlich genug vor Geschaeftsabschluss auf diese Gefahren hingewiesen wird, die fuer Menschen mit gesundheitlichen Problemen (z.B. im Bereich Herz-Kreislauf) tatsaechlich sehr ernst werden koennen, steht doch immer das Verkaufsinteresse im Vordergrund. Es genuegt eben nicht, wenn dies der Reisefuehrer erst im Bus waehrend der Fahrt auf die Omalos-Hochebene tut und die Leute dann zum Teil gehoerig erschreckt. Wer aber waehrend der Wanderung gar nicht mehr weiterkann, fuer den befinden sich in der Schlucht Eselchen als "Taxis", die die tatsaechlich Gehunfaehigen zum Schluchtausgang transportieren.
Ich wandere jedes Jahr einmal durch diese im wahrsten Sinn des Wortes ueberwaeltigende Landschaft. Ich gehe stetig, aber nicht zu schnell, mache oefters kleine Pausen, schuetze mich gut vor der besonders im letzten Drittel sengenden Sonne (Ein seinerzeitiger Wanderkamerad: "Hier sticht der Planet!"), kuehle mich mit dem kalten Quellwasser ab und trinke es literweise. Ich geniere mich ueberhaupt nicht, immer zu den letzten zu zaehlen, die in Agjia Roumeli ankommen. Mein "Lohn" sind immer ein genuessliches entspannendes Bad im Lybischen Meer, zahlreiche Fotos und eine koerperliche Konstitution, mit der ich auch in den darauf folgenden Tagen einigermassen ertraeglich weiterleben kann. Ich geniesse jeden Atemzug, sauge die Duefte in mich ein, lass die Waerme in mich eindringen, bis sie sogar das Knochenmark erreicht, horche auf die Laute in der Natur, und setze einen Schritt vor den anderen, stundenlang ...
Auch Millionen von Touristen koennen meines Erachtens dieser Schlucht nichts von ihrer Wildheit, ihrer Schoenheit, ihrem unverwechselbaren Flair nehmen, solange sie tatsaechlich die Regeln - diese allerdings kompromisslos - einhalten, die zu ihrem eigenen und dem umfassenden Schutz der Schlucht eingefuehrt wurden. So hoffe ich von ganzem Herzen - und wohl nicht nur ich -, dass dieses landschaftliche Juwel, die sagenumrankte und geschichtstraechtige Samaria-Schlucht im Herzen Kretas noch Generationen von Pflanzen und Tieren Heimstadt bleiben und Generationen von Menschen bilden, erfreuen, gesunden lassen und - wer weiss es schon - wieder einmal beschuetzen kann.
Hier noch ein Link:
M.R. Hecht Hopfner. Wien. 2025. Alle Rechte vorbehalten. |
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