Sitia

Wo Poesie erstrahlt

von Margaretha Rebecca Hecht Hopfner

Fuer diesen Tag im Fruehsommer 2003 hatte ich mir einen besonderen Ausflug vorgenommen. Ich wollte von meinem Ausgangspunkt Plakias den Osten Kretas ein erstes Mal erkunden und zumindestens bis nach Sitia gelangen. Vielleicht, so dachte ich mir, fahre ich auch noch nach Palaekastro an der Ostkueste und besteige dort den heiligen Berg Petsofas, doch diese Ziele zu erreichen, war mir damals noch nicht vergoennt. Frueh am Morgen ging es los mit einem gemieteten Auto: zunaechst die stark befahrene Kuestenstrasse im Norden der Insel in Richtung Osten der aufgehenden Sonne entgegen, auf diesem Weg ueber Kretas Hauptstadt Heraklion und nach ausgedehntem Zwischenaufenthalt in der minoischen Palastanlage von Malia weiter nach Agjos Nikolaos, dann am unweit davon entfernten minoischen Gournia vorbei. In ungezaehlten Kurven durch huegeliges Bergland, die Auslaeufer des Orno-Gebirges, schlaengelte sich eine schmale Strasse durch kleine Doerfer ... bis schliesslich von einer letzten Anhaehe aus in strahlendem Weiss glaenzend Sitia aus dem blauen Meer gleichsam aus den Tiefen der Geschichte auftauchte und in der flirrenden Nachmittagssonne sich vor mir hinstreckte wie ein riesiger ruhender schimmernder Fisch, dem es an Land zu gefallen schien. Noch war eine serpentinenartige Talfahrt zu bewaeltigen, und es fiel mir, die ich hinter dem Steuer sass, die Konzentration auf die Fahrt selbst schwer bei dem sich mir bietenden reizvollen und abwechslungsreichen Stadt-Land-Meer-Panorama. Schliesslich war es geschafft und ich stroemte ein in das gemuetliche Staedtchen, von dem mir schon zuvor gesagt wurde, dass hier das Leben ein wenig "anders" verlaufe, der Leichtigkeit eines beschwingten Tanzes vergleichbar, die Menschen ein wenig freundlicher seien, den Ernst ihres Lebens nicht wie eine steinerne Maske tragen, dass in Sitia eben die Zeit und die in ihr sich wiegende Poesie des Seins mit eigenem Mass gemessen und ausgeschritten werde ...

Sitia ist mit ihren circa 10 000 Einwohnern die sechstgroesste kretische Stadt und zugleich urbanes Zentrum Ostkretas mit seinen hervorragenden agrikulturellen Erzeugnissen, fuer welche sowohl Olivenoel als auch Wein beruehmt sind. Von den Venezianern erhielt der Ort seinen heutigen Namen - La Sitia - , der Archaeologe Antonis Vassilakis allerdings fuehrt diesen bereits auf den Namen der antiken Polis Eteia zurueck, welche in juengerer Zeit oestlich der Stadt freigelegt wurde. Nach Sitia wurde die sie umgebende Region benannt, und es gibt sogar Vermutungen, die Lassithi-Hochebene habe ihren Namen ebenfalls von hier aus erhalten. Das gesamte Siedlungsgebiet ruht auf und lebt von reicher Vergangenheit, die - so belegen es zahlreiche archaeologische Funde - mindestens 3500 Jahre bis weit in die minoische Zeit zurueckreicht. In byzantinischer Aera war Sitia gar Bischofssitz, und waehrend der Periode der Kreuzzuege wurde die Stadt wiederholt Ziel blutiger von Friedrich Barbarossa gefuehrter Angriffe. Die seit Beginn des 13. Jahrhunderts auf Kreta herrschenden Venezianer erkoren Sitia zur Provinzhauptstadt, bauten das aus byzantinischer Zeit stammende Kastell aus und praegten das staedtebauliche Antlitz mit seinem schachbrettartig anmutenden Strassennetz. Mitte des 17. Jahrhunderts wichen die Venezianer den anstuermenden tuerkischen Eroberern, zerstoerten einen Grossteil der Festungsanlage und evakuierten die ansaessige Bevoelkerung. Beinah zweihundert Jahre geisterte Sitia fortan in leblosem und menschenleerem Zustand durch die Geschichte; erst Ende des 19. Jahrhunderts revitalisierten Tuerken die Stadt und benannten sie nach ihrem Pascha Avnie.

Wer dieser Geschichte und ihren Geschichten vor Ort nachspueren will, hat dazu reichlich Gelegenheit. So koennen sowohl ein Archaeologisches Museum, ein Volkskunstmuseum als auch Ausgrabungen in der naeheren Umgebung besichtigt werden, bei Agja Fotia etwa wurden in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts ueber 250 fruehminoische Schachtgraeber freigelegt. Ebenso existieren nach wie vor Reste des alten Kastells. Ausfluege in den Osten nach Palaekastro, Itanos, den Palmenstrand Vai und auch nach Kato Zakros im Suedosten, dem vierten der bislang entdeckten minoischen Palaeste, sind problemlos zu bewaeltigen. Ich selber konnte aus zeitlichen Gruenden nicht mehr ausschwaermen in die Umgebung Sitias, und so habe ich mich an der palmengesaeumten Hafenpromenade eingefunden und mich in eines der Strandcafes gesetzt, um mich von der anstrengenden Autofahrt zu erholen, habe den artig sich an den Hang schmiegenden pastellfarbenen Haeusern gruessende Blicke zugeschickt, Meerluft eingeatmet, freundlich laechelnden Kellnern meine Bestellung mitgeteilt und mich der hier sprichwoertlichen atmosphaerisch gegenwaertigen "Leichtigkeit des Seins" hingegeben.

Die gesamte Uferpromenade wird ueberstrahlt vom Geist eines grossen Poeten, den ein marmornes Denkmal vergegenwaertigt: Es wurde fuer Vinzenzos Kornaros errichtet, dem Verfasser des Erotokritos, welches als eines der bedeutendsten dichterischen Werke aus dem 17. Jh., der so genannten kretischen Renaissance, aufleuchtet. Ein Mann, dessen Waffe eine Feder war, wird hier geehrt! Welch ein Kontrast zu den zahlreichen mit Gewehren und Saebeln bestueckten scheinbar immer noch kampfbereiten Freiheitskaempfer Kretas, deren Statuen beinah jedes kretische Dorf im Auge behalten. Vinzenzos Kornaros entstammte einer hellenisierten kretisch-venezianischen Adelsfamilie, die ihrerseits von Karpathos kommend sich in Sitia niedergelassen hatte. In ueber 10.000 Versen verdichtete er eine antike koenigliche Liebesgeschichte, ruehmte und beschwor griechischen Geist und schlug so eine Bruecke zwischen Gegenwart und Vergangenheit, sodass sein Werk mittlerweile als einer der wichtigsten poetischen Pfeiler in der juengeren Literaturgeschichte Griechenlands angesehen wird.
Wie lebendig der Erotokritos bis heute in den Herzen der Kreter selbst geblieben ist, zeigt sich auch darin, dass sie vielfach in ihren Mantinades, den gesungenen Stehgreifversen, inhaltlich Bezug darauf nehmen. Am Hafen von Sitia haben die kampferfahrenen und leidgeprueften Menschen Kretas gerade einen jener Orte geschaffen, wo auch sie der Liebe und Schoenheit, der Poesie ihre Ehre erweisen und damit einer uralten griechischen Tradition huldigen ...

Folgenden Werken habe ich wichtige Hinweise fuer diesen Text entnommen:
Kreta. Dumont. Reisetaschenbuch. 7. Aufl. Koeln. 1998.
Brinke, Margit und Peter Kraenzle: Kreta. Reise Know-How Verlag. 2. Aufl. Bielefeld. 2000.
Fohrer, Eberhard: Kreta. 14. Aufl. Michael Mueller Verlag. Erlangen. 2003.
Schneider, Lambert: Kreta. 5000 Jahre Kunst und Kultur: Minoische Palaeste, byzantinische Kapellen und venezianische Stadtanlagen. Dumont Kunst-Reisef�hrer. K�ln. 1998.
Vassilakis, Antonis: Kreta. Geographie Geschichte Museen Archaeologische Staedten und Monumente. Athen.o.J.

M.R. Hecht Hopfner. Wien. 2023. Alle Rechte vorbehalten.

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